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Der Autor Valentin Moritz.

© PR/Vincent Schaack

Der doppelte Übergriff: Die Causa „Oh Boy“ stellt die Grenzen der Kunstfreiheit infrage

Darf ein Täter über seine Tat schreiben, auch wenn das Opfer es nicht will? Der Autor Valentin Moritz hat es getan. Und steht offenbar immer noch dazu.

Ein Kommentar von Claudia Reinhard

So wirkmächtig ist sie anscheinend doch nicht, die vielbeschworene Cancel Culture, wenn es einen ganzen Monat dauert, bis sich Verantwortliche mal genötigt fühlen, auf schwere öffentliche Vorwürfe in Bezug auf einen sexuellen Missbrauch zu reagieren.

Eine betroffene Frau hatte bei Instagram zum Boykott des Sammelbands „Oh Boy“ aufgerufen, da der Mitherausgeber Valentin Moritz in seinem Beitrag „Ein glücklicher Mensch“ seinen sexuellen Übergriff auf sie beschreibe – und das, obwohl sie ihn vorher inständig gebeten hatte, die Geschichte nicht zu veröffentlichen.

Dass der Kanon Verlag nun die Auslieferung des Buches gestoppt hat und potenzielle Nachauflagen ohne „Ein glücklicher Mensch“ erscheinen sollen, ist zu begrüßen. Der Prozess, der dieser Entscheidung vorausging, zeigt allerdings deutlich, dass trotz der #Metoo-Bewegung, zumindest in Deutschland, Opfer nach wie vor oft erst dann gehört werden, wenn öffentlicher Druck Täter und Profiteure in die Ecke drängt.

Verlag und Autor diskutierten über das „Nein der Betroffenen“

In einer ersten Reaktion betonte der Kanon Verlag am gestrigen Freitag, dass der Vorwurf von einem anonymisierten Account kam – wie fadenscheinig diese Bemerkung jedoch war, beweist die ausführliche Stellungnahme, die kurz darauf folgte. Darin geben die Verantwortlichen zu, schon lange vor der Veröffentlichung von dem Widerspruch der Betroffenen gewusst zu haben.

Man habe daraufhin „intensiv darüber diskutiert, ob es nicht doch einen Weg geben könnte, dem Nein der Betroffenen zu entsprechen und einen Text über ein Tabuthema zu ermöglichen, in dem es um Scham, Reue und Prägungen geht“. Das Ergebnis sei „Ein glücklicher Mensch“ gewesen.

Diskussionen über ein „Nein der Betroffenen“ ohne die Betroffene also, die ihre Haltung dem Autor gegenüber längst deutlich formuliert hatte.

Ebenso sehr wie das Vorgehen des Verlags muss allerdings das Gebaren des Autors schockieren, der mit seiner Erzählung zum zweiten Mal die Grenzen der Betroffenen wissentlich überschritt – und das ausgerechnet unter der Prämisse, sich kritisch mit dem Begriff „Männlichkeit“ auseinanderzusetzen.

Profit habe er daraus allerdings nicht geschlagen, behauptet Moritz in seiner Stellungnahme. Schon sein Vorschusshonorar sei an eine Organisation geflossen, die Frauen und Zugehörige anderer Geschlechtsidentitäten in Fällen von sexualisierter Gewalt berät. Mit etwaigen Gewinnen aus dem Buchverkauf wolle er ebenso verfahren.

Täter sollen schreiben

Dass Valentin Moritz die Tragweite seiner Übergriffe, des ersten wie des zweiten, im Zuge seiner literarischen Auseinandersetzung mit der Sache auch nur ansatzweise begriffen hat, ist leider bis heute nicht erkennbar. In seinem Statement entschuldigt er sich nicht für sein Handeln, sondern dafür, „dass sich diese Person von meiner Veröffentlichung derart getroffen fühlt“.

Das erklärte Ziel des Autors, „einen offeneren, ehrlicheren Umgang mit dem Thema sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen und männlicher Täterschaft zu fördern“, kann man gar nicht genug unterstützen. Anstatt sich allerdings gegen den expliziten Willen der Betroffenen selbst darüber auszulassen, hätte er sich als Mitherausgeber genauso gut um einen anderen Beitrag aus dieser Perspektive bemühen können.

Denn natürlich sollen auch Täter ihre Geschichten erzählen. Am Einverständnis der Betroffenen darf dabei allerdings, egal wie verfremdet oder anonymisiert ein Text auch sein mag, kein Weg vorbeiführen, wenn man nicht erneut zum Täter werden will.

Rechtlich mussten Autor und Verlag in ihrem Entscheidungsprozess nichts befürchten. Erfolgreiche Unterlassungsklagen, in denen sich Menschen auf verletzte Persönlichkeitsrechte in fiktionalen Erzählungen beriefen, gibt es in Deutschland kaum. Eins der wenigen Gegenbeispiele ist der Rechtsstreit um den Roman „Esra“ von Maxim Biller. Hier erstritten die Ex-Frau und -Schwiegermutter des Autors ein Verkaufsverbot.

Dass es mit dem kulturellen Wandel durch die #Metoo-Bewegung, hin zu einem sensibleren und respektvolleren Umgang mit Betroffenen jenseits potenzieller Gerichtsentscheidungen noch nicht so weit her ist, wie gemeinhin behauptet, auch das zeigt die Causa „Oh Boy“.

„Ob und wie über sexualisierte Gewalt aus Täterperspektive gesprochen werden sollte, ist ein hochkomplexe Frage“, schreibt der Kanon Verlag. Wohl wahr. Eine erste einfache Antwort: So nicht.

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