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Im Selbstporträt. Artemesia Gentileschi, circa 1615.

© National Gallery

Eine Ikone der Kunstgeschichte: Der Hype um Artemisia Gentileschi kommt nach London

Sie gilt als eine der ersten erfolgreichen Künstlerinnen im 16. Jahrhundert. Die National Gallery widmet Artemisia Gentileschi nun eine beeindruckende Schau.

Über Monate hinweg verschickte die National Gallery in London Ankündigungen ihrer geplanten Ausstellung „Artemisia“. Der Vorname der Künstlerin, deren Nachname „Gentileschi“ lautet, genügte. Nur kam Corona dazwischen, und die Ausstellung musste um schlussendlich xx Monate verschoben werden; ein mittleres Wunder, dass sie angesichts der schwer erreichbaren Leihgaben doch noch stattfinden kann und nun sogar bis ins kommende Jahr hinein zu sehen sein wird.

Die britischen Museen sind auf zahlende Besucher angewiesen, weit mehr als jene in Kontinentaleuropa. Zwar ist der Eintritt in die Nationalgalerie frei, um so mehr kosten die Tickets für Sonderausstellungen; die jetzige glatte 20 Pfund. Dass „Artemisia“ dermaßen gehypt wird, entspringt also schierer Notwendigkeit. Aber verändert der Hype nicht auch die Wahrnehmung der Kunst, um die es doch geht?

Artemisia, die reale Person der 1593 in Rom geborenen und 1654 in Neapel verstorbenen Malerin, ist längst zu einer Ikone geworden, seit sie 1976/77 in der legendären Ausstellung „Women Artists“ figurierte. Und entsprechend wird sie in London vorgeführt, als erstmalige und zudem erfolgreiche Künstlerin inmitten einer reinen Männerwelt, was zu einem guten Teil zutrifft, aber eben nicht ganz.

Erst im vergangenen Jahr hat der Madrider Prado mit Sofonisba Anguissola und Lavinia Fontana zwei Vorgängerinnen von Artemisia gewürdigt, die sich gleichfalls durchsetzen und zu hochrangigen Aufträgen gelangen konnten. Und Artemisia hatte einen Vater, Orazio Gentileschi, der höchst erfolgreich war und sie als Malerin ausbildete, nun aber im Nachruhm seiner Tochter zum bloßen Schemen wird.

Immerhin zwei Gemälde Orazios hat die mit gut dreißig Werken eher kleine, aber in die stets etwas zu knappen Wechselausstellungsräume im Keller des Nationalgalerie-Anbaus recht ordentlich hineinpassende Ausstellung zu bieten, und zwar an ihrem Anfang wie an ihrem Ende. So soll die anfängliche Abhängigkeit und schließlich erfolgte Befreiung Artemisias vom väterlichen Vorbild sinnfällig gemacht werden.

Artemisia hat die längste Zeit ihrer Karriere in Neapel gelebt

Kein Zweifel, Artemisia Gentileschi ist eine herausragende Künstlerin, und mehrere ihrer bekannten Werke sind meisterlich. Das trifft nicht nur für die beiden in ihrer Frühzeit um 1614 geschaffenen Fassungen des blutrünstigen Sujets „Judith enthauptet Holofernes“ zu, in dem die feministische Kunstkritik seit besagter Ausstellung von 1976 die Verarbeitung der ihr wenig zuvor von einem Geschäftspartner des Vaters angetanen Vergewaltigung sehen will.

Feministische Kunstkritik? „Judith enthauptet Holofernes“ wird heute von manchen als Verarbeitung einer erlebten Vergewaltigung gesehen.
Feministische Kunstkritik? „Judith enthauptet Holofernes“ wird heute von manchen als Verarbeitung einer erlebten Vergewaltigung gesehen.

© National Gallery

Mag dies so sein; andererseits hat Caravaggio, dieser archetypische peintre maudit, bereits 1599 eine blutspritzende Enthauptung des Holofernes gemalt, die sie in Rom – wo sie als junges Mädchen bis zu ihrer Zweckheirat 1612 kaum Ausgang hatte – vielleicht nicht gesehen hat, die ihr aber zweifellos durch Stiche oder Beschreibungen in ihrem schonungslosen Realismus geläufig war.

Der Name Caravaggios muss ohnehin fallen. Artemisia hat die längsten Zeiträume ihrer durch selbstbewusste Ortswechsel gekennzeichneten Karriere in Neapel gelebt, wo ihr nicht nur Werke Caravaggios zugänglich waren, sondern überhaupt dessen Neuerungen auf Jahrzehnte hinaus bestimmend blieben.

Sie malt vorzugsweise Frauengestalterinnen und sich selbst

Dass Artemisia in solcher Helldunkelmalerei Großartiges geleistet hat, steht dabei außer Frage. Ihr Gemälde „Judith und ihre Magd mit dem Haupt des Holofernes“ von 1625, das gerade nicht den Gewaltakt zeigt, besticht durch die Diagonalkomposition der beiden sich vom Betrachter abwendenden Frauen. Kuratorin Letizia Treves, in der National Gallery für Barockmalerei zuständig, nennt Artemisia im vorbildlichen Ausstellungskatalog eine „hervorragende Erzählerin“ und lenkt den Blick gezielt auf diese Qualität.

[London, National Gallery (Sainsbury Wing), bis 24. Januar 2021, täglich geöffnet. Katalog 30 Pfund. Infos und Zeitfenstertickets unter nationalgallery.org.uk]

Vorzugsweise malt Artemisia Frauengestalterin – und sich selbst, nicht zuletzt um die hohen Kosten für stillsitzende Modelle zu sparen, in verschiedenen Rollen, als Märtyrerin Katharina, als Lautenspielerin oder – dies jedoch eher eine passende Annahme – als Personifikation der Malerei. Letzteres Bild, wieder eine grandiose Diagonalkomposition, darf wohl tatsächlich als Bekenntnis verstanden werden, ist doch „die“ Malerei auch im Italienischen weiblich. Bereits 1616, im Alter von nur 23 Jahren, wird Artemisia als erste Frau in die Kunstakademie von Florenz aufgenommen, ihrer Wahlheimat nach dem Wegzug aus Rom.

In den späteren Jahren verflacht ihre Kunst

Den unternimmt sie mit ihrem Ehemann unmittelbar nach dem berühmten Prozess, den ihr Vater gegen den Vergewaltiger angestrengt hatte und der tatsächlich mit dessen (nie vollstreckter) Verurteilung endete. Es galt, den Familiennamen, dies kostbare Kapital, vor Ehrverlust zu schützen.

Die daraufhin eingegangene Zweckehe mit dem Bruder ihres Anwalts hat Artemisia nicht glücklich gemacht; sie unterhielt wenig später mit einem gleichaltrigen Florentiner eine – in heutigen Sprachgebrauch „heiße“ – Beziehung, von der ihre Briefe an den Geliebten Zeugnis ablegen.

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Sie sind, wie auch die umfangreiche Prozessakte, in der Londoner Ausstellung zu sehen und fügen der Kunst den biografischen Kontext hinzu.

In späteren Jahren, auch das unterschlägt die Ausstellung nicht, verflacht Artemisias Kunst. Man darf ihr zugutehalten, dass sie nach Aufträgen arbeitete, zudem mit spezialisierten Malern für Hintergrundarchitekturen oder -landschaften zusammenarbeitete. Auch Altarbilder finden sich nun in ihrem bis dahin ganz auf privaten Genuss eingeschränkten Œuvre; sie sind nicht wirklich ihr Metier.

Das Interesse an Artemisia jedenfalls ist da

In den 1630er Jahren im pulsierenden, aber auch von politischen Fehden zerrissenen Neapel lebend, muss sie zahlreiche, heute leider nicht mehr zu identifizierende Gemälde geschaffen haben. Womöglich findet sich unter mancher Dutzendware in Kirchen und Palästen ihre Signatur, von späterer Hand überschrieben, wie es bei einem der jetzt ausgestellten Werke geschah. Etwas lieblos sind die unspezifischen Bilder dieser Periode im noch dazu kleinsten der sieben Ausstellungsräume zusammengedrängt.

Mit ihrem Vater traf Artemisia ein letztes Mal 1638 zusammen – in London, wo Orazio ein großes Deckengemälde schuf, bei dessen Fertigstellung ihm die Tochter zur Hand ging. Der Vater starb unmittelbar darauf, und Artemisia tauschte London mit Neapel. Somit hat die jetzige Ausstellung eine lokale Anbindung; auch kommen zwei Werke, je eines von Vater und Tochter, als Leihgaben aus der königlichen Sammlung.

Und schließlich hat die National Gallery vor zwei Jahren das Bildnis der Hl. Katharina für einen Millionenbetrag erworben; wie schon 2016 ein Großformat von Orazio. Sage niemand, man könne heute keine Altmeistersammlung mehr bereichern.

Das Interesse an Artemisia jedenfalls ist da, wie sich anhand der Nachfrage nach Zeitfenstertickets zeigt. Die frei zugänglichen Räume der National Gallery hingegen sind dieser Tage wunderbar leer, wie man sie wohl seit Jahrzehnten nicht hat sehen können.

Der ganze Reichtum dieses überreichen Museums springt jetzt erst, wo man Bild für Bild die Wände abschreitet, so ganz ins Auge. Artemisia Gentileschi ist da eine wunderbare Ergänzung. Neu schreiben muss man die Kunstgeschichte nicht.

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