zum Hauptinhalt
Die Williams Fairey Band, hier auf dem Flughafen in Manchester 1997, spielt am Sonnabend, den 12. Juli, im Haus der Berliner Festspiele Acid-House-Klassiker.

© Jeremy Deller/Foreign Affairs

Jeremy Deller bei "Foreign Affairs": Der Kapellmeister

Der britische Künstler und Turner-Preisträger Jeremy Deller lädt beim Finale des Berliner Festivals Foreign Affairs zum „Acid Brass“-Konzert: eine wilde Mischung aus der Musik der Bergarbeiter und den großen Raves in den verlassenen Fabrikhallen. Ein Treffen mit dem Multitalent.

Wie einer, der große Menschenmengen orchestriert, wirkt Jeremy Deller nicht gerade, auch wenn er deshalb nach Berlin gekommen ist. Zierlich ist er, leicht zu übersehen in der blendend weißen Lounge des Ellington Hotels, wo an diesem Nachmittag vor allem „Bread & Butter“-Gäste ihre modisch betuchten Glieder in den riesigen Ledersesseln strecken. Mit ihnen ist der Londoner Künstler kaum zu verwechseln. Das T-Shirt mit dem Songzitat „War is over – if you want it“, verknitterte Shorts, die nackten Füße in Birkenstock-Sandalen – all das weist ihn kaum als Fashionist aus. Der Spruch käme gar nicht gut an, erzählt er mit einem Grinsen. Am Vorabend hätte sich jemand schrecklich darüber geärgert: Der Krieg vorüber? Deller gefiel die kleine Aufregung, kaum dass er aus London angekommen ist, um mit seinem Act „Acid Brass“ das Berliner Festival „Foreign Affairs“ zu beschließen.

Jeremy Deller organisiert Paraden und inszeniert Schlachten

Dieses Jahr hat Programmleiter Matthias von Hartz bildende Künstler eingeladen, die auch fürs Theater arbeiten, und umgekehrt Darsteller, die in Museen auftreten, wie der Choreograf Boris Charmatz, der in der Tate Modern in London oder im New Yorker MoMA gastierte. Jeremy Deller lässt sich erst recht nicht festlegen. Er firmiert zwar als bildender Künstler, erhielt 2004 den Turner-Preis und gestaltete 2013 den britischen Pavillon auf der Biennale Venedig. Aber seine Kunst ist nicht zu greifen: Mal filmt er, mal organisiert er Paraden oder lässt Schlachten reinszenieren, dann richtet er Ausstellungen ein. Der studierte Kunsthistoriker ist jemand, der überraschende Verbindungen herstellt und am Ende selber darüber staunt, was daraus wird.

Turner-Preisträger. Der Konzeptkünstler Jeremy Deller im Berliner Ellington Hotel.

©  Doris Spiekermann-Klaas

Ähnlich ist es ihm mit dem Projekt „Acid Brass“ ergangen, mit dem er nun in Berlin gastiert. Die Idee dazu sei ihm im Pub gekommen, erzählt er. Brass, das ist die Musik der Bergarbeiter, mithin der Industrialisierung, Acid wiederum der Sound der großen Raves in den verlassenen Fabrikhallen, der Klang der De-Industrialisierung. Der 48-Jährige dachte die beiden Musikrichtungen einfach zusammen und bat die aus Manchester stammende Fairey Band, auf ihren Blasinstrumenten Acid-House-Klassiker zu spielen. Das klingt ungewöhnlich, hat aber Schmiss, sobald man die Stücke erkennt. Wenn die Musiker in ihren strahlend blauen Jacketts mit goldenen Knöpfen und Litzen, reißt es die meisten Zuhörer zum Tanzen mit. So stellt sich das Jeremy Deller auch für den heutigen Samstagabend vor: „Schließlich ist Berlin eine Party-Stadt.“

Auch die Auseinandersetzungen mit streikenden Bergarbeitern hat Deller nachgestellt

Egal, getanzt wird auf alle Fälle, im Anschluss ist im Haus der Berliner Festspiele eine Acid-House-Party geplant. Vorher zeigt Deller noch seinen Film „The Battle of Orgreave“, mit dem er sich ebenfalls als Geschichtsforscher der anderen Art erweist. Als 18-Jähriger bekam er Mitte der achtziger Jahre die gewalttätigen Auseinandersetzungen um die streikenden Bergarbeiter nur am Rande im Fernsehen mit. Aber er spürte, dass da etwas nicht stimmt; die Berichterstattung war manipuliert, wie sich später erweisen sollte. 20 Jahre später machte Deller sich nach Yorkshire auf und organisierte ein Reenactment des blutigen Kampfes. Zum Teil mit damals Beteiligten, die auf diese Weise ihre Sicht der Dinge noch einmal darstellen konnten. Das Event mit Hunderten von Akteuren wurde zur Selbsterfahrung und schließlich zu einer Form der Neuschreibung der britischen Zeitgeschichte.

Deller hat hier zu einer ganz eigenen Kunstgattung gefunden, die einerseits kollektive Gefühle freisetzt, Gemeinschaft erlebbar macht, aber auch politische und historische Stränge aufnimmt. Das beste Beispiel dafür lieferte sein bildhauerischer Beitrag zu den Olympischen Spielen vor zwei Jahren in London. Ganz gegen seine Erwartungen wurde er zum Coup. „Ich wollte etwas machen, das unmöglich ist, das gegen alle Erwartungen verstößt,“ erzählt er, immer noch staunend über den großen Erfolg.

Dellers Nachbildung von Stonehenge als Hüpfburg war ein Hit

„Sakrileg“ lautete denn auch der Titel seiner 1:1-Nachbildung von Stonehenge als Hüpfburg. Sie war ein Renner in London und geht heute noch auf Reisen nach Australien, Mexiko oder Spanien, wo die Begegnung mit dem ältesten Kulturgut des Vereinigten Königreichs zur großen Gaudi wird. Was aus Gründen des Schutzes vor Zerstörung seit langem nicht mehr berührt werden darf und doch als nationaler, Identität stiftender Besitz aller Briten gilt, hatte Deller mit einem einfachen Kniff physisch greifbar zurückgegeben.

Humor gehört zu den wichtigsten Elementen von Dellers Kunst. „Er macht Dinge einfacher zugänglich, transportiert leichter Botschaften,“ erklärt der Künstler und fragt mit schelmischem Grinsen zurück, was denn in Deutschland mit Stonehenge vergleichbar sei. Hier käme zwar das ein oder andere Bauwerk infrage, aber wer hierzulande könnte die Dinge mit ähnlich leichter Hand vom Kopf auf die Füße stellen und wieder zurück? Zumindest gab es mal einen: „Beuys besitzt komische Seiten“, meint Deller. Darauf muss man erst mal kommen.

„Acid Brass“, am Sonnabend, 12. Juli im Haus der Berliner Festspiele, 20.30 Uhr

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false