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Urbilder des erfolgreichen Sonderlings. Die „Apple“-Gründer Steve Wozniak (rechts) und Steve Jobs 1976 am Computer.

© dpa

Interview mit Autorin Annekathrin Kohout: „Der Nerd ist ins Zentrum der Gesellschaft gerückt“

Vom Außenseiter zur populären Figur: Ein Gespräch mit der Kulturwissenschaftlerin Annekathrin Kohout über eine exzentrische Existenz als Projektionsfläche.

Annekathrin Kohout (33) ist Kulturhistorikerin und Medienwissenschaftlerin. Seit 2014 schreibt die Germanistin über Pop, Internetphänomene und Kunst auf dem Blog Sofrischsogut.

Frau Kohout, in Ihrem Buch argumentieren Sie, dass die Sozialfigur des Nerds an Relevanz einbüßt. Dabei hat die Pandemie durch Social Distancing und die vielen Stunden am Computer doch die besten Voraussetzungen für eine Renaissance der Nerds geschaffen.
Ich habe das Buch größtenteils vor der Pandemie geschrieben, aber auch festgestellt, dass sich etwas in der Dynamik dieser Sozialfigur tut. Meine Diagnose, dass womöglich schon das Ende des Nerds eingeläutet wurde, ist natürlich überspitzt, und doch hat die Pandemie gezeigt, dass es eine Entkernung dieser Figur gibt. Je vielfältiger sie ausgestaltet wird, desto mehr Menschen können sich mit ihr identifizieren, aber dadurch verliert sie ihre Eigentümlichkeit. In den letzten Jahren wurden ja die unterschiedlichsten Menschen auf einmal als Nerd bezeichnet.

Christian Drosten oder Karl Lauterbach etwa.
Diese Zuschreibungen sind berechtigt, aber greifen zu kurz, weil diese Figur viele ihrer einstigen Bedeutungen verloren hat. Es ist erstaunlich, dass der Youtuber Rezo als Nerd bezeichnet wird, obwohl er Coolness ausstrahlt, und gleichzeitig jemand wie der Politiker Philipp Amthor als Nerd wahrgenommen wird. Bei Rezo geht es um seine Technologieverbundenheit, Amthor hingegen sieht aus wie der klassische Teenage Nerd. Noch wichtiger als der Technologiefaktor ist das, was ich „Hyperfocusing“ nenne: die Eigenschaft eine besondere Leidenschaft für ein Themengebiet zu entwickeln. In unserer Kultur der Spezialisierung ist der Nerd deshalb nach wie vor die sinnvollste Referenzfigur.

Annekathrin Kohout: Nerds. Eine Popkulturgeschichte

© C H Beck

Gleichzeitig hat die Pandemie befördert, was Sie als „Die Unbeliebtheit des Verstands“ bezeichnen: einen Anti-Intellektualismus, der sich gegen Nerds wie Drosten oder Lauterbach richtet.
Beide werden für ihre Rolle als Wissenschaftler gehasst und geliebt. Der Nerd steht in Tradition von anti-intellektuellen Motiven, was sich schon durch das Aussehen der Figur äußert, das optisch eine soziale Inkompetenz vermitteln soll. Der Nerd wurde vor allem durch amerikanische Teenager-Filme popularisiert, in denen er das Gegenbild zum Rebell oder Sportler darstellt. Der Nerd ist eine aktualisierte Form des früheren verrückten Wissenschaftlers, der eine Renaissance erlebt und Parallelen zu Drosten oder Lauterbach aufweist.

Der Nerd wird Ihnen zufolge immer weniger dazu verwendet, unsere Haltung zur Technologie zu verhandeln. Hat er sich selbst überflüssig gemacht?
In den 70ern und 80ern brauchte man noch eine Figur, die der Gesellschaft hilft sich darüber zu verständigen, welche Rolle insbesondere Computertechnologie einnehmen kann. Der Nerd als fiktive Figur stand in enger Wechselwirkung mit realen Personen wie Bill Gates, Steve Jobs oder Steve Wozniak und wurde zu einer Projektionsfläche für die gesellschaftliche Haltung gegenüber neuen Technologien. Er ist eine schillernde Figur, weil er gleichzeitig dazu dient Technik zu kritisieren, indem man etwa zeigt, dass sie soziale Abschottung fördern kann, aber auch um sie positiv zu bewerten. Die Popularität der Figur resultiert daraus, dass Technikskepsis abgenommen hat. Der Nerd ist vom Außenseiter-Dasein ins Zentrum der Gesellschaft gerückt, aus den Teenage Nerds wurden Softwaremilliardäre, mit denen sich sehr viele identifizieren wollen.

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Aber nicht alle können. Der Nerd ist meist weiß und männlich und erschwert womöglich Frauen und PoC den Zugang zu Wissenschaft und Technik.
In den 90ern fing man an zu kritisieren, dass mit dem Nerd sehr patriarchale Konstrukte zementiert wurden. Der Außenseiter wurde zum Helden, aber er verkörperte keine neuen Werte. Deshalb ist es schwer für Frauen oder PoC sich mit dieser Figur zu identifizieren. Das ist von Bedeutung, weil der Nerd mittlerweile wichtige Positionen in der Gesellschaft inne hat. Es gibt etliche Studien, die belegen, dass die Popularität des Nerds und der Rückgang von Frauen in der IT-Branche parallel verliefen. Ursprünglich war die Informatik ein Frauenberuf. Das hat sich durch den Nerd gewandelt und zeigt, wie einflussreich solche Sozialfiguren sind. Deshalb ist die Kritik an ihm berechtigt, wenngleich es viele weibliche Nerds in der Popkultur gibt. In meinem Buch versuche ich zu überprüfen, ob es ihnen gelingt, diese Figur aufzubrechen.

Die Autorin Annekathrin Kohout.

© Valentina Seidel

Zu welchem Fazit kommen Sie?
Bei der Darstellung weiblicher Nerds oder Nerdettes gibt es zwei Tendenzen. Die Figur wird einerseits, als emanzipatorischer Gestus verwendet, der Nerdstatus hilft die eigene Weiblichkeit zu überkommen und zementiert damit die traditionelle Rollenaufteilung. Auf der anderen Seite sollen die Defizite des Weiblichen aufgedeckt werden. Zum Beispiel durch das Motiv des hässlichen Entleins, wie in der Highschool-Komödie „Eine wie keine“. Die Protagonistin ist eine typische Kunst-Nerdin mit Brille. Doch am Ende – wie in den meisten dieser Filme – wird sie zur attraktiven Frau. Das Nerdkostüm ist also nur da, um das Weibliche zu negieren.

Gibt es positive Beispiele oder braucht es gar neue, eigenständige Figuren?
Ja, Clarissa aus der gleichnamigen Comedyserie. Eine junge Teenagerin, die Computerspiele programmiert und für mich der Inbegriff einer Nerdin ist, auch wenn man sie nicht als solche bezeichnet hat. Ich glaube, es braucht neue Begriffe und Figuren, weil der Nerd für alle nicht-weißen oder männlichen Menschen zu Anpassungsdruck führt. Beispiele wie die „GamerGate“-Kontroverse, bei eine Debatte über Sexismus in der Videospielbranche in eine Hass-und Belästigungskampagne gegen Frauen und queere Menschen umschlug, zeigen, dass es noch Aufholarbeit zu leisten gibt. Auch im Zusammenhang mit der Piratenpartei hat man gemerkt: Man kann sich zwar als Frau mit der Nerdkultur identifizieren, aber es wird von der Community oft nicht akzeptiert.

Sie warnen davor, dass der Nerd immer mehr zum alten, weißen Mann wird. Nicht nur wegen seines Aussehens, sondern auch weil sein Fortschrittsglaube einem Kulturpessimismus weicht. Ist der Nerd heute mehr Mahner als Vermittler?
Absolut, ich war überrascht von der Hauptfigur der deutschen Serie „How to sell drugs online (fast)“, die sich als Nerd identifiziert und direkt am Anfang eine Wutrede gegen die Sozialen Medien hält, die mit der Kritik endet, dass heute niemand mehr anders ist oder denkt. Der Nerd kommt ursprünglich aus dem bürgerlichen Spießertum und nimmt nun wieder konservativere Züge an. Die anfängliche Euphorie über den digitalen Fortschritt und die Freiheitsgefühle sind in Ernüchterung umgeschlagen.

Der Nerd sei anschlussfähig für rechte Ideologien heißt es im Buch. Sind rechte Internet-Trolle und Incels – Männer, die unfreiwillig keinen Sex haben und sich dafür an Frauen rächen wollen – seine Erben?
Man bringt die Nerdkultur oft mit diesen in Verbindung und in den anonymisierten, digitalen Schutzräumen dieser Communities können Rassismus, Homophobie oder Sexismus frei kultiviert werden. Rechte Trolle begreifen sich oft als Nerds, was die Sozialfigur wiederum verändert. Sie wird diese Assoziation nicht unbeschadet überstehen.

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