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Ohne Menschen ist die Stadt, wie hier in der Berliner Ben-Gurion-Straße am Potsdamer Platz, buchstäblich auf sich selbst zurückgeworfen.

© Jens Kalaene/dpa

Spaziergang durch die leere Stadt: Die steinernen Standbilder sind gegenüber den Menschen in der Überzahl

Die Straßen sind leer, plötzlich sehen wir die Stadt wieder mit ganz neuen Augen. Ein Spaziergang entlang vermeintlich vertrauter Orte.

Am Schiffbauerdamm an der Spree steht ein Einkaufswagen, so verrostet und zerbeult, als hätte Bertolt Brecht höchstselbst mit ihm den Kapitalismus auf’s Abstellgleis der Geschichte geschoben. Betrachtet man den warenlosen Rostkorb länger, fragt man sich, ob er selig träumt oder ihn Albträume quälen. Die Stadt ist so leer, dass man sie nicht mehr versteht, nicht mehr lesen kann. Was sonst schrie, schweigt und was gestern stumm am Boden lag, steht heute auf und spricht.

Was uns gerade widerfährt, lässt sich nicht ohne Weiteres in die Empfindungs- und Erfahrungsgeschichte der Stadt einordnen. Als die Mauer 1989 fiel, lagen wir uns in den Armen. Die euphorische Körpervermählung jener Tage verdeckte, wie sehr sich die zwei Städte, Ost und West, auseinandergelebt hatten, wie schwer es die Straßen, die Gleise, Fassaden und Laternen, die Schilder, Signale und Farben hatten, zusammenzufinden.

Der von Christo und Jeanne-Claude verhüllte Reichstag schenkte uns 1995 zwei Wochen Sommerglück. Das historisch kontaminierte Gelände und Gebäude öffnete sich als demokratisches Möglichkeitsfeld, Berlin begann zu schweben und Menschen aus aller Welt staunten über die zivile Heiterkeit der Deutschen. Auf robustere Art kehrte dieses Gefühl 2006 zurück, als das Sommermärchen die Stadt in eine Fanmeile verwandelte. Millionen fremde Körper drängten dicht an dicht in einem Fußballkollektiv zusammen, das durch kosmopolitischen Schweiß, lokalen Bratwurstduft und nationalen Flaggenrausch zusammengehalten wurde.

Was macht das Virus mit der Interaktion zwischen Passanten und Fassaden?

Aber wer sind wir jetzt, wenn wir durch Berlin gehen? Was macht das Blockade-Virus mit der Stadt, mit der Interaktion zwischen Fleisch und Stein, Passanten und Fassaden? Wie verändern sich unsere urbanen Empfindungsantennen? Liegt Berlin noch an der Spree? Hat die Stadt nun ein Gesicht, ein Antlitz oder eine Fresse? Wer jetzt spazieren geht, entdeckt sich als Entdeckungsreisenden und die Stadt als historisch-chronologischen Dschungel. Fast alle Autos sehen aus, als hätten sie ihr Haltbarkeitsdatum überschritten.

Am auffälligsten zeigen sich Sport Utility Vehicles, sogenannte SUVs. Sie erinnern an Kropolithe von Dinosauriern und sind zugleich die Avantgarde eines kommenden Bürgerkriegs. Es ist bisweilen so still in der Stadt, dass man ferne Echos hört, Beifall braust auf, man fragt sich woher, für wen oder was? Gedichtzeilen wehen über die schiffsfreie Spree: Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut/In allen Lüften hallt es wie Geschrei/Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei/Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Mensch wird zum hospitalisierten Tier

Der Spaziergänger erinnert sich an den Titel des Gedichts von Jakob van Hoddis, „Weltende“ (1911), und weiß jetzt, warum es ihm so urplötzlich in den Sinn gekommen ist. Später, beim Blick auf Balkone, wo Menschen Kniebeugen machen, erstarrt sitzen oder wie Automaten winken, denkt man an Rilkes „Panther“. Jetzt wird der Mensch zum hospitalisierten Tier: Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nicht mehr hält./ Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe/und hinter tausend Stäben keine Welt.

Man begegnet Menschen, deren Augen stammeln, sie bemühen sich, die städtische Situation zu lesen, aber sie haben gar kein Arsenal von Begriffen oder Erfahrungsmodi, mit denen sie die Gegenwart dechiffrieren könnten. Beinahe wie verstört wirkt der Passant in der Mall of Berlin, in der außer ihm niemand ist. Die Rolltreppen gleiten ins Nichts, simulieren heroisch Betriebsamkeit, wo nur Schaufensterpuppen stehen. Die textilen Verheißungsdarsteller springen und stürmen ins Ungewisse, sie erzählen, wer wir mal sein wollten, bevor wir zur konsumistischen Askese gezwungen wurden.

Die Melancholie der Mall ist ruinenschön, erinnert aber an die Hyperkonsum-Ödnis vor dem Bann, und schließlich ist man froh, dem Horror der leersten Leere entkommen zu sein. Da nicht so viele Menschen unterwegs sind wie sonst, springen die wenigen deutlicher ins Auge. Vor allem die Nasen stechen in See. Ob nun die Nase unter einer Maske steckt oder nicht, sie wirkt wie ein gehisster Wimpel oder ein Kompass, dem die Orientierungslosen folgen. Vielleicht müssen die Nasen, jetzt, wo es die Augen so schwer haben, auch doppelte Arbeit verrichten? Aber auch die Ohren sind geschärft. Vor dem Deutschen Theater. Totenruhe, tausend reglos-blinde Fenster ringsum. Der leere Saal schweigt vorwurfsvoll durch alle Mauern, die Bühne ruft nach Schicksalsfleisch, die Bronzeköpfe der Intendanten blicken missbilligend. „Beweise, dass es dich gibt“, fordert ein Aufkleber an der Wand.

Auf dem Regierungsviertel liegt ein Zauber

Dafür spielt das Regierungsviertel Theater. Die Gebäude wirken bereits postdemokratisch, der Reichstag, das Paul-Löbe-Haus, der ganze Spreebogen, alles verzaubert. Das Kanzleramt – verwunschen, wie von einer gewaltigen Dornenhecke verhüllt, die Freischwinger, die man in den Seitenflügeln sieht, sind offenbar nie besetzt gewesen, und Efeu erobert das Gebäude im Sturm.

Die Stadt mit neuen Augen sehen: Sonnenaufgang über dem Reichstag.
Die Stadt mit neuen Augen sehen: Sonnenaufgang über dem Reichstag.

© Christophe Gateau/dpa

In der Wilhelmstraße döst eine Regierungslimousine. Es ist der Wagen der Familienministerin. Vorne auf der Armaturenablage prangt ein lächelndes Adlerpärchen in Plüsch, das Wappentier des Ministeriums. Was für ein putziger Staat sind wir doch. Wer solche Insignien hat, schickt keine Panzer mehr. An einer Ecke des Reichstags performt eine Sängerin mit verstärkter Gitarre. Die Stimme glänzt im spiegelglatten Wasser. So schön und fremd war noch keine Frühlingssonne, die Menschen stehen wie Playmobilfiguren, artig auf Distanz und reisen: Nach innen geht der geheimnisvolle Weg.

Auf dem Gehweg tanzt der Bürger virtuose Virustänze, ein Gemisch aus abgezirkelter Achtsamkeit, aufschäumender Panik und unterdrückter Aggression. Überall, jederzeit Jogger. Die Jogger laufen nicht nur der Endlichkeit, sondern auch der Endzeitlichkeit davon. Kinder spielen, wie in den fünfziger Jahren, auf Straßen und Hinterhöfen.

Die Waren in den Schaufenstern sehen aus wie Readymades

Vor den Häusern stehen existentielle Entsorgungskisten, an den Zäunen hängen Gaben für die Obdachlosen. Die Museen bleiben geschlossen, aber die Stadt kompensiert das spielend: Die Waren in den Schaufenstern sehen aus wie Readymades von Marcel Duchamp und Andy Warhol, die Passanten werden einander selbst zu Artefakten. Man blickt sich aufmerksamer an, in menschenleeren Straßen wird der sich begegnende Mensch zum Rätselwesen, zur Sphinx.

Dafür steigen all die Generäle, die Götter, die steinernen Standbilder, die Karyatiden und Mythen vom Dach. Steht man in Mitte an der Schlossbrücke und blickt zum Zeughaus hinauf, sind die mythischen Figuren gegenüber den Passanten in der deutlichen Überzahl. Wohin man schaut, geht es um Krieg, Tod und Verwüstung, Sterben, Auferstehen und Himmelsfahrten. Und auch die Fahnen, die sonst schlaff und unbemerkt im Raum hängen, schießen jetzt ihre nationalen Botschaften klirrend in die Luft. Überhaupt die Luft, es liegt was in ihr, was Zwittrig-Gewittriges, Doppelköpfiges, Aufgekratztes. Um die Spielplätze Flatterband. Die ganze Stadt ist eine Crime Scene Investigation, wohin man blickt: Mord. Aber noch ist kein Blut geflossen und die Polizisten bleiben noch sanft und freundlich, wenn sie Ermahnungen aussprechen. Dennoch: Tyrannei sprießt aus den Ritzen.

Man denkt an die Orte des Erinnerns im Bayerischen Viertel, wo man auf Gedenktafeln die Daten der Entrechtung ablesen kann: „Jüdische Kinder dürfen keine öffentlichen Schulen mehr besuchen, 15.11.1938. Verbot jeglichen Schulbesuchs, 20.6.1942.“

Man möchte diese hässliche Stadt umarmen

Tyrannei liegt in der Luft, die Stadt als Lungenunheilanstalt, aber auch ein einziges Fürsorge- und Zärtlichkeitsgebiet. BVG-Busse biegen beinahe poetisch um die Ecke, Liebespaare küssen sich inniger, Homeoffice-Väter entdecken ihre Kinder, das Bier zum Weg hat Konjunktur und Jugendliche verklumpen in staatskritischem Protest zu Mini-Party-Grüppchen. Ganz Berlin stürzt sich in seine innerstädtischen Naherholungsgebiete: „Komm in den totgesagten park und schau:/Der schimmer ferner lächelnder gestade./Der reinen wolken unverhofftes blau/Erhellt die weiher und die bunten pfade.“ Öffnen sich mit diesen Stefan-George-Zeilen Unheilstüren?

Nie sah man die Stadt nackter, entblößter, jetzt, wo wir und unsere alltäglichen Gesichtsfestspiele fehlen. Man möchte diese hässliche Stadt umarmen und einen Gutteil entsorgen, weil man erst jetzt sieht, mit wem man all die Jahre verbracht hat.

All die preußischen Generäle, ob sie nun auf dem Ziethenplatz ihr Unwesen treiben oder sonst wo … dieses ganze Statuen gebärende Männlichkeitskonzept ist so … Yesterday … all my troubles… was gut kommt, ist bunt: Keith Harings Skulptur „The Boxers" macht fröhlich und auch die Lego-Giraffe um die Ecke kichert. Kann sich irgendwer die postheroische Merkel als Bronzebüste vorstellen? Oder Christian Drosten? Was bleibt? Manchmal Bäume.

Am Karlsplatz in Mitte stehen zwei Pappeln. Und eine Tafel, auf der findet sich ein Gedicht von Brecht: Eine Pappel steht am Karlsplatz Mitten in der Trümmerstadt Berlin Und wenn Leute gehen übern Karlsplatz Sehen sie ihr freundlich Grün. In dem Winter sechsundvierzig Fror'n die Menschen, und das Holz war rar Und es fieln da viele Bäume Und es wurd ihr letztes Jahr. Doch die Pappel dort am Karlsplatz Zeigt uns heute noch ihr grünes Blatt: Seid bedankt, Anwohner vom Karlsplatz Dass man sie noch immer hat!

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