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Die Namen der Mittelmeer-Toten: Fünf Jahre lang recherchierte Doris Salcedo für „Palimpsest“ (2013 – 2017), eine Installation zu Ehren ertrunkener Flüchtlinge.

© © Doris Salcedo Foto: Mark Niedermann

Doris Salcedos Kunst gegen das Vergessen: Blut und Rosen

Doris Salcedo gibt Gewaltopfern mit ihren Werken eine Stimme. Die Fondation Beyeler bei Basel widmet der kolumbianischen Künstlerin eine große Einzelschau.

„Objekte erinnern an das Leben eines Menschen. Eine Person hinterlässt Spuren durch die Kleider, die Möbel, die sie benutzt, die Tische und Stühle, die sie erwarten. Wenn jemand auf brutale Art und Weise gewaltsam verschwindet, dann schreien diese Gegenstände förmlich die Abwesenheit heraus“, sagt Doris Salcedo.

Die Kolumbianerin, geboren 1958 in Bogotá und konfrontiert mit den Schrecken von 45 Jahren blutigem Bürgerkrieg zwischen Regierung, Drogenkartellen und politischen Gruppen in ihrer Heimat, gibt menschlichem Elend hinter verlassenen Alltagsgegenständen eine Stimme: Die spröden Skulpturen, Objekte und Installationen der seit langem in der westlichen Welt, in Japan und neuerdings auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten gefeierten Künstlerin thematisieren Gewalt aller Art, nicht zuletzt sexuelle Gewalt gegenüber Frauen.

In Kolumbien wie anderswo nimmt sie Leid, Verzweiflung und Traumata der Opfer von Entführung, Folter, Mord und Vergewaltigung, Krieg und Vertreibung zum Anlass, um mit ihrer empathischen Kunst gegen das Vergessen solcher Verbrechen anzugehen.

Doris Salcedo wuchs in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá auf, die sie selbst als „Katastrophen-Epizentrum“ beschreibt. Seit 1985 lebt und arbeitet sie wieder dort. Sie studierte Malerei und Kunstgeschichte an der Universität von Bogotá, dann Bildhauerei an der New York University. Obwohl ihre Werke oft aus konkreten Ereignissen resultieren, besitzen sie universale Gültigkeit. Stilistisch äußert einfallsreich kreisen sie um Verlust, individuellen Schmerz und kollektive Trauer sowie deren gesellschaftliche Bewältigung. Die eigentlichen Schrecken werden dabei nie unmittelbar gezeigt, sondern durch vermeintlich belanglose Materialien veranschaulicht.

Für ihr herausragendes Oeuvre wurde Doris Salcedo 2017 in Lübeck mit dem erstmals vergebenen Possehl-Preis für internationale Kunst geehrt, dazu mit einer ersten Ausstellung in Deutschland, deren titelgebende Werkgruppe „Tabula Rasa“ den Horror der Vergewaltigungen von Frauen im kolumbianischen Bürgerkrieg thematisierte.

Als erstes Schweizer Museum widmet nun die Fondation Beyeler in Riehen bei Basel Doris Salcedo auf 1300 Quadratmetern eine umfangreiche Retrospektive mit acht Werkreihen und insgesamt rund 100  Einzelarbeiten aus öffentlichen und privaten Sammlungen. In dem vom italienischen Stararchitekten Renzo Piano entworfenen Museumsgebäude der Fondation findet sich genügend Platz für Salcedos oft ausladende, ungewöhnliche Kunst.

Objekte erinnern an das Leben eines Menschen. Wenn jemand auf brutale Art und Weise gewaltsam verschwindet, dann schreien diese Gegenstände förmlich die Abwesenheit heraus.

Doris Salcedo

Von Anfang an sorgten Salcedos raumgreifende Installationen für Aufsehen. Besonders monumental geriet „Untitled“, realisiert 2003 für die 8. Internationale Istanbul Biennale. Das Objekt bestand aus rund 1550 zwischen zwei Gebäuden aufgetürmten Holzstühlen, die an die Geschichte der Migration und Vertreibung armenischer und jüdischer Familien aus Istanbul erinnertenn. Für „Shibboleth“ schuf Salcedo 2007 in der Turbine Hall der Tate Modern in London eine felsspaltenartige Kluft, die sich durch den gesamten Raum zog und damit gesellschaftliche Ab- und Ausgrenzung, aber auch Trennung räumlich erfahrbar machten.

Erstmals im deutschsprachigen Raum ist nun bei Beyeler bereits seit Oktober 2022 als Vorlauf zur aktuellen Schau Salcedos 400 Quadratmeter große Madrider Installation „Palimpsest“ (2013 – 2017) zu sehen. Sie ist den Flüchtlingen gewidmet, die in den letzten 20 Jahren auf dem gefährlichen Weg nach Europa im Mittelmeer oder Atlantik ertrunken sind. Fünf Jahre recherchierte sie dafür die Namen der Opfer, die nun – im Sinne des Titels – „lesbar gemacht“ auf sandfarbenen Bodenplatten wasserumspült erscheinen und wieder verschwinden.

Doris Salcedo, Jahrgang 1958, stammt aus Bogotá, Kolumbien.

© David Heald

Salcedos Werke symbolisieren in erstaunlicher Weise fragile Verletzlichkeit und zugleich Gewalt. Für „Atrabiliarios“ (1996) etwa hat sie hinter einem Sichtschleier nutzlos gewordene, getragene Schuhe an einer Ausstellungswand arrangiert. Sie gehörten Frauen, die in Kolumbien als Opfer von Gewalt spurlos verschwunden sind.

Als besonders berührende, poetische, laut Kritikermeinung „kühnste“ und flüchtigste Arbeit ihrer Karriere konfrontiert die Baseler Ausstellung die Besucher mit Salcedos „A Flor de Piel“ (2011/12). Der 5 mal 4,5 Meter große Teppich lässt an Blut, Fleisch und Wunden denken. Mit Absicht: Der Quilt aus Tausenden konservierter, filigran mit der Hand vernähter dunkelroter Rosenblätter gemahnt an das grausame Schicksal einer gekidnappten, zu Tode gefolterten kolumbianischen Krankenschwester.

Im Raum daneben reihen sich die Tische von „Plegaria Muda“ (2008–2010) als „Stilles Gebet“ aneinander. Es geht dort um Bandenkriminalität, die Salcedo in Los Angeles erlebte, um Opfer- und Täter-Paare. Zu sehen sind sargähnlich übereinander gestapelt jeweils zwei Tische, die Platten getrennt durch eine Schicht Erde. Daraus keimen Grashalme als Zeichen von Hoffnung im Akt des Trauerns.

In sargähnlich gestapelten Tischen keimt das Gras der Hoffnung: „Plegaria Muda“ (2008 – 2010) thematisiert Salcedo Bandenkriminalität.

© White Cube (Patrizia Tocci)

Stilistisch ganz anders „Disremembered“ (2014/15, 2020/21): Die blusenähnlichen Stoffgebilde aus zarter Rohseide, durchstochen von 12.000 silbrig schimmernden Nadeln, gehen buchstäblich unter die Haut. Sie erzählen vom missachteten, endlosen Schmerz jener Mütter in Chicago, deren jugendliche Söhne als Gangmitglieder gewaltsam zu Tode kamen. Die Künstlerin hat mit vielen dieser Frauen gesprochen. Ebenso mit Vergewaltigungsopfern und Menschen auf der Flucht vor politischer Verfolgung und Hunger. Oder vor dem Klimawandel, wie jüngst in „Uprooted“, realisiert für die Biennale 2023 im arabischen Sharjah

Salcedos in hohem Maße sich selbst verpflichtende Kunst erfordert jahrelange intensive Vorbereitung, Recherche und Ortserkundung. Wo sie kann, nennt die Künstlerin immer häufiger Gewaltopfer beim Namen und bindet Leidtragende in ihre Arbeiten ein. Sie versteht sich nicht als Einzelkämpferin, sondern als Teil eines Ensembles, das gemeinsam künstlerische Projekte realisiert. Ihre Kunst, „das bin nicht ich“, sagt sie, „das ist kollektive Arbeit.“ 

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