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Dvoráks „Stabat Mater“ mit den Berliner Philharmonikern: Versuch über den Schmerz

Schweigeminute für die Opfer des Hamas-Terrors: Unter Leitung von Jakub Hrůša wird Antonín Dvoráks Oratorium zu einem Manifest der Empathie und der Solidarität.

Fis, der erste Kreuzton, damit fängt es an, in gleich mehreren Stimmlagen. Leere Oktaven. Wer trauert, hat keine Worte, es schnürt die Kehle zu, zieht einem das Herz zusammen. Antonín Dvorák führt die in Noten gefasste Kreuzsymbolik in aller Sinnlichkeit aus und webt ein Leichentuch, aus dem sich chromatische Abwärtsskalen entspinnen, ein Trauerflor-Gespinst, bis die Tenöre des Berliner Rundfunkchors die ersten Zeilen des „Stabat mater“ anstimmen.

Vor Beginn des Oratoriums über das Leid der Mutter Maria, die zusehen muss, wie ihr einziger Sohn am Kreuz getötet wird, bittet einer der Berliner Philharmoniker um eine Schweigeminute, für die Opfer des Hamas-Terrors in Israel. Das zehnteilige Werk des böhmischen Komponisten für Chor, Orchester und vier Solisten entstand anders als vieles von Dvorák nicht als Auftragswerk, sondern als freie Arbeit, in zwei Arbeitsphasen. Die erste, 1876, nach dem Tod seiner neugeborenen Tochter, die zweite, eineinhalb Jahre später, nach dem Tod zweier weiterer Kinder.

Versuch über den Schmerz, nach mittelalterlichen liturgischen Versen. Gastdirigent Jakub Hrůša animiert das Riesenensemble auf dem Podium zur Behutsamkeit, ohne die expressiven Brio-Passagen herunterzudimmen. Breitflächige Klänge, schockstarre Andante-Tempi, die demütig-stockende Diktion des Solisten-Quartetts an Ende des „Quis est homo“, bittersüße Seufzermotive, das verzweifelte Aufbäumen gegen die Sinnlosigkeit des Tods im „Fac, ut ardeat“, ebenso das überwältigende Mitgefühl und die Hilflosigkeit derer, die tatenlos zuschauen müssen – die Trauer hat viele Facetten. Ein zutiefst berührendes geistliches, aber eben auch intimes Werk, man würde es gern öfter im Konzert hören.

Der 41-jährige Hrůša, Chefdirigent der Bamberger Symphoniker und als tschechischer Landsmann von Dvorák ein Spezialist auch für die volksliedhaften Anmutungen des „Stabat Mater“, legt vor allem Wert auf eine Musik der Innerlichkeit. Dem Trauma der Mutter begegnet er mit mal sanfter, mal inbrünstiger Empathie und versteht das Oratorium nicht zuletzt als Manifest der Solidarität.

Zu den weichen Punktierten des Orchesters oder den Wiegerhythmen im „Tui nati vulnerati“ gesellt sich die wie immer exquisite Klangkultur des Rundfunkchors, der diesmal weniger auf Textverständlichkeit aus ist als darauf, auch die härteren Konsonanten in den Klangfluss einzubetten. Allein die zarte Süße des Chorfrauen-Einsatzes zum „Sancta mater“ im vierten Satz!

Eng verzahnt auch der Wechsel zwischen Chor- und Sologesang, und auch die äußerst unterschiedlich disponierten Solist:innen harmonieren zunehmend miteinander: der geradlinige Sopran von Corinne Winters, der voluminöse Mezzo von Marvic Monreal, der opernhafte, manchmal leicht unkontrollierte Tenor von David Butt Philip und der eher verhaltene Bass von Matthew Rose.

Auf den glutvollen Trostgesang des Mezzosoprans und eine letzte, in fahles Licht getauchte Totenwache folgt die fast schon trotzige Auferstehungsvision: ein großes Versprechen mit überbordender „Amen“-Fuge. Aber den Schmerz kann der Trotz nicht vertreiben. Dvorák flicht filigrane, ins Sphärische entschwindende Streicherfiguren in den Finalsatz, die Schlussakkorde sind von der Wehmut der Hörner gefärbt. Jakub Hrůša faltet die Hände hoch über seinem Kopf und hält die Spannung im Saal, bevor der Jubel losbricht.       

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