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Unterhaltung: Fernsehen macht glücklich

Fernsehen ist erfolgreich wie nie zuvor, obwohl mit dem Internet eigentlich sein Untergang vorausgesagt worden war. Weil es Ersatz, Teilhabe und Identifikation auf sehr viel bequemere Weise anbietet als jede Online-Aktivität.

Woran kann man unzweifelhaft einen Mörder erkennen? An seiner Antwort auf die Frage: „Wo waren Sie am Samstag zwischen 20 Uhr 15 und 22 Uhr?“ Er hat keine Antwort, anders als Millionen Deutsche. Die haben ein Alibi – sie saßen vor dem Fernseher. Sie gönnen sich ihr Lieblingsstück, den Krimi, mehr als sechs Millionen schunkeln zeitgleich bei der „Krone der Volksmusik“, beinahe 7,5 Millionen feixen parallel beim Staffelauftakt der Castingshow „Deutschland sucht den Superstar“.

Wer je wissen wollte, warum es von gesellschaftlich enormem Nutzen ist, dass der Durchschnittsbürger seine tägliche Sehdauer 2010 auf den neuen Rekord von 223 Minuten hochgeglotzt hat, der weiß es jetzt: Fernsehen verhindert, dass Millionen Deutsche Zeit dafür haben, ihre Nachbarn mit Hausmusik oder mit Gesang zu quälen oder zwischen 20 Uhr 15 und 22 Uhr Verbrechen zu begehen.

Fernsehen ist erfolgreich wie nie zuvor, obwohl mit dem Internet eigentlich sein Untergang vorausgesagt worden war. Weil es Ersatz, Teilhabe und Identifikation auf sehr viel bequemere Weise anbietet als jede Online-Aktivität, als Googeln, Mailen, Chatten oder Twittern. Immer findet sich im TV einer für Aufregung und Nervenkitzel, einer wie Samuel Koch, der tragischerweise glaubte, er könne, „Wetten, dass ...?“, risikofrei auf Stelzen über Autos springen. 35 000 Kandidaten wollen in der RTL-Show „Superstar“ werden, sieben Millionen daheim wollen fette Blamage und krachendes Scheitern erleben. Politik ist unübersehbar komplex, unüberschaubar kompliziert geworden – selbst für Politiker. Im Bundestag wird es immer leerer, die Talkshows dagegen immer voller – auch mit Politikern. Beim frauenaffinen Fernsehfilm treffen sich Herzilein und Schmerzilein erst in Not und Pein und schlussendlich in der Umarmung. Wenn zusammenwächst, was im wirklichen Leben längst geschieden ist.

Unterhaltung der höchsten Risikoklasse, Fremdschämen für die Talentlosesten unter den Talentlosen, Politik als schreiende Rechthaberei, porentiefe Emotionen – wer liefert all das heftig und deftig, frei Haus und auf Knopfdruck? Der Pizza-Service namens Fernsehen.

Wer fernsieht, kann mitreden, ernsthaft vielleicht nur übers Programm und niemals über den versendeten Inhalt, egal, eine Sendung ist ein Gesprächsthema für alle. Hier zählt – siehe Quote – nicht das Individuum, hier zählt die Fernsehvolksgemeinschaft. Wer wie 999 999 andere das Rudel-Silvester am Brandenburger Tor oder den Hitzschlag in der WM-Fanmeile für eine Glückseligkeit hält, der sagt zum „Tatort“ nicht nein. Geil ist geil.

Fernsehen, das war zu seinen Anfängen und in der öffentlich-rechtlichen Alleinstellungsphase Volkshochschule, Erziehungslager, gemacht von den vermeintlich Schlauen für die Masse der vermeintlich Doofen. Aus dem hochnäsigen Angebots- ist ein Nachfragemedium mit allergrößter Demut vor dem Publikum geworden. In der Primetime wird gesendet, was gefällt. Die Hauptprogramme, ob ARD oder RTL, sind Kampfzonen der Aufmerksamkeit.

In dem Maße, in dem partikulare, verfeinerte Interessen der Sucht der Sender nach der großen Zahl weichen mussten, in dem Maße ist mancherorts die Verachtung für das Quotenfernsehen gewachsen. Es gibt ehrenwerte Totalverweigerer, über das Niveau zutiefst verzweifelte Kritiker. Aber es gilt auch: Die gestiegene Einschaltquote wird nicht gegen die Zuschauer, sondern mit den Zuschauern erreicht. Nicht wenige aus den gebildeten Ständen gönnen sich beim Fernsehen ein Niveau, das sie sich bei der Zeitungslektüre, beim Buch, in der Freizeit sonst nicht erlauben. Es darf auch mal der unschöne Gedanke gedacht werden, dass die Programme ein Reflex der nachgewiesenen, der gemessenen Erwartungen des fernsehsüchtigen Publikums sind. Arte ist toll, die ARD ist toller, am tollsten aber ist RTL.

Nirgendwo wird so viel gelogen wie bei der Aussage über den gestrigen Fernsehkonsum. Wir wollten erst gestern besser fernsehen, haben es wieder nicht geschafft. Und wer ist schuld daran? Genau.

PS: Wenn Sie, lieber Leser, heute dem Medium entsagen, wissen Sie, was Sie Ihrem Nachbarn aufhalsen? 446 Minuten Glotze. Sonst wackelt der Deutschen ihr Fernsehrekord.

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