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Der Rothschild Boulevard in Tel Aviv.

© Imago/bialorucki bernard

Ibtisam Azems „Buch vom Verschwinden“: Die Erinnerungen der Orte

Die in Israel geborene pälästinensische Schriftstellerin Ibtisam Azem hat einen Roman über das Verhältnis zwischen arabischstämmigen und jüdischen Israelis geschrieben.

Plötzlich ist alles anders. Der Bus, der die palästinensischen Arbeiter aus dem Westjordanland nach Israel bringen soll, kommt einfach nicht. David wartet an der Bushaltestelle vergeblich auf seinen Freund Yussuf. Der Gefängniswärter sucht im Hochsicherheitsgefängnis den Häftling Nr. 3, doch der ist trotz aller Sicherungsmaßnahmen spurlos verschwunden. Ein Arzt erscheint nicht zum Dienst im Krankenhaus. Und dann kommt im Radio die Meldung: „Die Behörden sprechen von einem plötzlichen Verschwinden sämtlicher arabischen Bewohner Israels, Judäas, Samarias und des Gaza-Streifens.“

„Das Buch vom Verschwinden“ ist der Titel dieses Romans der in Israel geborenen palästinensische Schriftstellerin Ibtisam Azem über eine groteske Situation. Die wichtigsten Protagonisten sind die israelischen Freunde Alaa und Ariel. Alaa ist Freelance-Kameramann palästinensischer Herkunft, Ariel Korrespondent eines amerikanischen Magazins und jüdischer Herkunft. Die beiden Freunde wohnen im gleichen Haus, treffen sich oft und reden über Gott und die Welt. Aber auch Alaa ist verschwunden, die Wohnung leer.

Die Autorin erzählt die Geschichte über das Erinnern und Verschwinden in kurzen knappen Kapiteln. Dabei wechselt die Perspektive des Erzählens immer mit den Protagonisten. Zwischen die Erzählungen aus der Sicht ihrer Hauptfiguren sind Szenen aus dem Alltag des Landes montiert, wo sich das Fehlen der Araber manifestiert.

Die Nakba und ihre Folgen

Der Roman beginnt allerdings mit dem Tod von Alaas Großmutter, die er liebevoll Tata nennt. Sie ist für ihn die Verkörperung des alten Jaffa, der blühenden Metropole vor der israelischen Staatsgründung am 14. Mai 1948. Ihr Tod symbolisiert ein erstes Verschwinden, das des alten Jaffa.

Für Tata blieb Tel Aviv ihr altes Jaffa, sie kannte die Stadt mit den alten arabischen Straßennamen und wollte sich nicht an die neuen hebräischen gewöhnen. Tata lebte mehr in ihrer Erinnerung als in der Gegenwart. Für sie war ihre Heimat verschwunden, ihr Palästina, ihre Verwandten, auch ihr Mann waren nach Beirut geflohen – nur sie blieb mit ihrer Tochter in Jaffa.

Über die Vertreibung, über die Nakba (Katastrophe) kam sie nicht hinweg, ein Leben lang. Die Gründung des Staates Israel war für die Juden in der Welt ein Grund zur Freude, für die über 650 000 vertriebenen Palästinenser und deren Nachfahren war sie eine Katastrophe.

Die letzte Rettungsleine

Wie geht man mit einer solchen Erinnerung um? Alaa hat nach dem Tod Tatas begonnen, mit seiner Großmutter in einen fiktiven Dialog zu treten, den er in ein kleines Notizbuch geschrieben hat. Der Freund findet dieses Notizbuch, als er ihn sucht. Für Alaa war die Großmutter der Fixstern, der ihm Orientierung bot. „Ich schreibe, um mich zu erinnern und zu verhindern, dass eine Erinnerung sich über die andere schiebt. Erinnerung …. Meine letzte Rettungsleine“.

Es scheint, als versuche sich Alaa in der Erinnerung an seine Großmutter seiner palästinensischen Identität und Geschichte zu vergewissern, die er anders zu verlieren fürchtet „Meine Geschichten bestehen aus den Geschichten deiner [Tatas] Geschichte“, notiert er. Ariel steht fassungslos vor den Notizen des Freundes, versteht dessen Sprachlosigkeit ihm gegenüber nicht. Warum hat er ihm nie davon erzählt, was ihn doch so tief berührt?

Azem zeichnet in kleinen Episoden eine Gesellschaft, in der die jüdischstämmigen und die arabischstämmigen Menschen nebeneinanderher leben und wenig voneinander wissen. „Haben Orte Erinnerungen? Spürt man Erinnerungen?“ fragt sich Ariel, der in diesem Land ganz selbstverständlich aufgewachsen ist. Alaas Fragen berühren ihn. Gewissheiten geraten ins Wanken. Sollte man nicht mehr miteinander reden? Azem liefert keine Lösung in ihrem Roman, der eher ein Mosaik aus Reflexionen ist, die zum Gespräch und zum Dialog provozieren wollen.

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