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Konturenlos. AnnenMayKantereit besingt auf „12“ (Irrsinn/Universal) ein Jahr, das so verschwommen ist wie das Promofoto der Band.

© Lenny Rothenberg

AnnenMayKantereit und ihr Album „12“: Ihr Sound trifft die Pandemie-Stimmung ziemlich gut

Was ist Musik in diesen Tagen wert? AnnenMayKantereit versuchen sich mit ihrem Album „12“ an der Gegenwartsbewältigung. Eine Kritik.

Wenn es gut läuft, ist Musik nicht nur gut, sondern bringt einen weiter, macht einen klüger, macht einem verständlicher, warum man gerade drauf ist, wie man drauf ist. Die meisten Menschen sind gerade nicht so gut drauf. Am allerwenigsten Musiker. Ohne Auftritte fehlt ihnen viel mehr als Geld.

Sie verbringen ihre Tage vermutlich oft wie Henning May, einen Kaffee trinkend morgens früh im Schatten einer Jalousie, „ich geh’ manchmal spazieren“, singt er lakonisch, „von der Küche in den Flur / Und ich genieße die Natur – im Innenhof“.

Er trifft Freunde. Aber nur in Chats. Er redet mit ihnen. Aber nur am Telefon. Auf die Frage, wie es ihm geht, lautet seine Antwort: „Es ist ok.“

Trauriger hat wohl ein Refrain noch nicht geklungen, der aus diesen drei Worten besteht, müde dahingesagt, ohne jeden Anflug einer Melodie, während im Hintergrund ein fröhlicher Calypso-Beat kreiselt. Ok ist nämlich eigentlich gar nichts. Aber so schlimm ist es nun auch wieder nicht, um ein Drama aus der Situation zu machen, in die der Coronavirus jeden gleichermaßen versetzt.

Damit treffen AnnenMayKantereit, die begnadeten Gefühlsartisten, die allgemeine Stimmung ziemlich genau auf „12“, ihrem Lockdown-Album, das sie ohne jede Ankündigung in der Nacht zu Dienstag veröffentlicht haben.

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Wenn es gut läuft, ist Popmusik so schnell, dass die Zeit in sie hineinfällt wie in einen Spiegel. Sie drückt dann Wahrheiten aus, von denen die Musiker keine Vorstellung besitzen. „Ohio“ von Neil Young war so ein Fall. Vielleicht ist „So wie’s war“ von ähnlichem Kaliber.

Man hört die früheren Straßenmusiker Christopher Annen, Henning May und Severin Kantereit einen Acapella-Gesang anstimmen, und dahinein setzen sie die niederschmetternde Erkenntnis: „So wie’s war, wird es nie wieder sein.“ Sie flüstern den Satz wie ein Mantra, das den Träumer im Schlaf heimsucht – hinter den Spiegeln.

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Denn es ist ja auch wirklich zu deprimierend, dass der Bruch in eine Zeit vor und eine nach Corona endgültig sein soll. Mit dieser Erschütterung ist die „Generation Me“ der in den 90er Jahren Geborenen derzeit konfrontiert, und sie beginnt zu begreifen, dass es eine existenzielle Krise ist, abgeschnitten von der Welt auf ein Ende zu hoffen, das keines sein wird.

Corona, glaubt May an anderer Stelle, sei „berühmter als der Mauerfall und Jesus zusammen“. Der Schnitt geht quer durch die Lebensbiografien, durch die Kultur mit ihren Beatles-Gewissheiten. „Ich habe keine Hoffnung zu verkaufen.“

Dem emotionalen Durcheinander eine Ordnung geben

Die Band hat, seit 2016 ihr Debüt „Alles nix konkretes“ erschien, einen phänomenal direkten Draht in die verunsicherten Stimmungslagen ihrer Altersgenossen. Viele Kritiker missverstehen ihre Klagen als Gejammer.

Dabei hat der 28-jährige May nur ein untrügliches Gespür für den Klang seiner rauen, tiefen Stimme, viel älter, als er selbst. Dieses Organ zieht einen in die Tiefe, dorthin, wo der Schmerz sitzt. Wie ihn bewältigen?

Das ist natürlich die interessanteste Frage neben der, ob der Coronavirus vielleicht sogar für Hits taugt. Tatsächlich findet sich auf „12“ eine Reihe ausgearbeiteter Songs mit dem Potenzial, nicht gleich wieder vergessen zu werden. „Warte auf mich“ etwa, ein tröstlich verwehter Ausflug ans Meer, oder „Aufgeregt“ über die Vorfreude auf das erste Date, das sich im Internet angebahnt hat.

Viel wichtiger aber ist der dramaturgische Bogen, der sich von einer Einleitung über diverse Skizzen und Zwischenspiele bis zu einer „Letzten Ballade“ und dem Outro spannt. Das unterstreicht: Hier will eine Band ihrem emotionalen Durcheinander eine Ordnung geben.

AnnenMayKantereits produktivste Quelle ist ein bestimmtes Gefühl

Zu der Suchbewegung gehört, dass May immer wieder auf dieselben Formulierungen eingeht, dass er sie variiert und neu kombiniert, um zu verstehen, was sie eigentlich bedeuten. Gipfelnd in der Feststellung: „Zum Glück bin ich nicht allein / Mit meiner Vergangenheit.“

Mit ihr setzt sich der Musiker, dessen Songwriting eng an biografische Erlebnisse gekoppelt ist, abermals intensiv auseinander. Sie ist sein Stoff. Und sei es in Form der Bandgeschichte, die im Rückblick gemeinsamer zehn Jahre rekapituliert wird. „Und wenn ich mich frage / Na, ja / Wenn ich mich frage / Wie haben wir das durchgehalten ohne zu knallen / Dann hab’ ich nur Antworten, die mir so gar nicht gefallen.“

Aber dann ist da auch das Nagende verpasster Chancen, denen ein Song wie „Das Gefühl“ gewidmet ist. Über eine Sache einfach nicht hinwegzukommen, obwohl man es eigentlich besser wissen müsste, ist AnnenMayKantereits produktivste Quelle.

Früher war daran auch Herzensgüte und Dankbarkeit geknüpft. Die, so der Eindruck, ist verloren gegangen in den engen, improvisierten Kammern, in denen „12“ entstand. Der Schock ist zu groß, dass die Welt sich im Kampf gegen Corona von allem abgewandt hat, was einen Satz wie „Ich will mehr“ berechtigt erscheinen ließ.

So fragt sich May am Ende, worüber er singen soll, wenn sich niemand für ihn interessiert. Glücklicherweise fällt ihm einiges ein. „Vielleicht auch irgendwann der Weltuntergang.“ Aber das wäre das letzte Mittel.

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