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Traumtropfen. Christiane Löhrs „Große Samenwolke“ im Haus am Waldsee.

© Roman März, VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Christiane Löhr im Haus am Waldsee: Im Gebirge der Efeusamen

Christiane Löhrs Werkschau „Ordnung der Wildnis“ im Haus am Waldsee zeigt florale Skulpturen.

Wenn es nicht arg nach Gartenarbeit klänge, würde man Christiane Löhr den grünen Daumen attestieren. An ihren rissigen Händen ist abzulesen: Sie hat es mit widerspenstigem Material zu tun. Die erste Berliner Soloschau der 1965 in Wiesbaden geborenen Künstlerin trägt den doppeldeutigen Titel „Ordnung der Wildnis“. Wird die Ordnung geschaffen oder ist sie schon da? Da trifft wohl beides zu.

Die Werke aus Kletten, Gräsern oder Samenständen ergeben sich aus einer besonderen Kooperation zwischen Mensch und Natur. Christiane Löhr baut minimalistische Plastiken mit floralen Mitteln. Dafür benutzt die Künstlerin weder Klebstoff noch Fixierspray. Allein die Pflanzenkräfte – etwa Stabilität und Flexibilität von Stängeln – sind maßgeblich für Struktur und Form.

Bereits 2001 hatte Löhr ihren großen Auftritt auf der Venedig-Biennale, als Harald Szeemann ihre Werke für die Hauptausstellung auswählte. Weltweit hat sie seither ausgestellt – dennoch ist ihre unaufdringlich-unscheinbare Kunst ein Geheimtipp geblieben.

Die aktuelle Werkschau im Haus am Waldsee, ihre erste in Berlin, umfasst Arbeiten aus den vergangenen 20 Jahren: Plastiken, aber auch Aquarelle und Ölkreide-Zeichnungen, auf denen sich Linien ranken. Löhr besteht zwar darauf, dass „die Zeichnungen nichts von den Pflanzenarbeiten wissen“, aber die Bilder wirken schon sehr vegetabil.

Man staunt. Über die Luftigkeit der Präsentation, die viel Freifläche stehen lässt. Hier wuchert kein Künstlerinnen-Ego. Selten hat man die Kunsträume der Zehlendorfer Villa so offen und unverstellt wahrgenommen. Verblüffend auch, dass bestimmte Anordnungen überhaupt funktionieren. So besteht das „Kleine Löwenzahngehänge“ an einer Wand aus zehn Pusteblumen, bei denen man sich fragt, warum die Flugsamen nicht längst zerstoben sind. Die Künstlerin hat die kugelförmigen Fruchtstände zum Dreieck geordnet.

Pro Arbeit nur eine Pflanzenart

Geometrische Raster einerseits, das freie Spiel der Vegetation andererseits: Löhr bringt beides in die Balance. Man wagt kaum zu atmen, wenn man sich den feinen Strukturen nähert, die auf einem flachen und breiten Podest im Erdgeschoss der Villa verteilt sind. Winzige Bogengänge, Kuppeln und Dome wachsen dort. Doch die architektonische Anmutung wirkt nie gezwungen, sondern im wahrsten Wortsinn organisch, denn Löhr verwendet pro Arbeit nur eine einzige Pflanzenart.

Eine „Große Samenwolke“ aus gelblich-flockigen Distelsamen hängt, von einem unsichtbaren Haarnetz getragen, von der Decke – wie ein Tropfen. Jannis Kounellis, ihr Lehrer, sprach angesichts von Löhrs Werken einmal von einer „Weichheit, aber eine so weiche, dass sie der Kraft nahekommt, und so kräftig, dass sie einem schwarzen Quadrat gleicht“

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Kounellis, der 2017 verstorbene griechische Künstler, war einer der Mitbegründer der Arte-Povera-Bewegung, deren Kunst durch „arme“ und unterschätzte Materialien bestimmt wurde. Haus-am-Waldsee-Leiterin Katja Blomberg sieht Löhr in dieser Tradition, erkennt aber ebenso Einflüsse von US-amerikanischer Minimal und Land Art. Nur denkt man bei Letzterem an Gigantomanien wie Robert Smithsons „Spiral Jetty“-Naturkunstwunder im Großen Salzsee von Utah. Mit ihren eher kleinen Werken für Innenräume, so Blomberg „vertritt Löhr nun wieder die Gegenposition“.

Achtsamkeit als ästhetische Kategorie

Der französische Raumtheoretiker Gaston Bachelard wies allerdings darauf hin, dass Weite und Winzigkeit – beide potenziell unendlich – untrennbar miteinander verknüpft sind. Im zweiten Stock des Hauses am Waldsee verkrallen sich zahllose Efeusamen zu einem „Gebirge“ von eben 72 Zentimetern Länge. Was ist Mikro-, was Makrokosmos?

[Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, bis 5.9., Di-So 11-18 Uhr, Katalog 24,80 €]

Neben Pflanzen verwendet Löhr auch Tierhaare, zum Vlies gewebt und mit Kletten besetzt – oder auch zum „Spinnen“-Netz verknüpft (was an den arachnophilen Künstler Tomás Saraceno erinnert). Ebenfalls im Obergeschoss hat die Künstlerin drei zarte Säulen aus Pferdehaar installiert, vom Boden zur Decke gespannt. Aufgrund von waagerechten Einschnürungen verbreitern sich die Konstrukte nach oben hin, lassen sich in die Unendlichkeit weiterdenken.

Einfach fesselnd, dieser kenntnisreiche wie formbewusste Umgang mit nachwachsenden Materialien. Ökokunst in der Ära des Klimaaktivismus? Vielleicht nicht, aber Christiane Löhr beweist, dass Achtsamkeit durchaus eine ästhetische Kategorie sein kann.

Jens Hinrichsen

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