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Kerstin Ott live, Köln bei ihrer Best Ott-Tour 2023/2024.

© imago/Beautiful Sports/IMAGO/BEAUTIFUL SPORTS/Derix

Kerstin Ott in der Berliner Benz-Arena: Befreites Klatschen auf der Eins – da muss man jetzt durch

Beim Berliner Konzert bringt Kerstin Otts Pärchen-Liebeslyrik die Fans zum Beben. „Die immer lacht“-Sängerin pumpt ein wichtiges Quäntchen Toleranz ins Schlagerparty-Milieu.

Als Schlagersänger:in hat man’s nicht leicht. Da ist zunächst die Laune, die stimmen muss – eine deprimierte Künstlerin animiert niemanden zum Auf-die-Eins-Klatschen. Dann muss man die Verachtung der Kritiker:innen ertragen, denn bis auf einschlägige Presse („Hossa-Magazin“ oder die Boulevardzeitung „tz“) lobt „Schlagerfuzzis“ selten jemand.

Und dann gibt es das Problem mit den ähnlichen Harmonien, ähnlichen Texten und ähnlichen Rhythmen: Es ist nicht leicht, den Überblick zu behalten, um Zeilen wie „Ich geh den Weg mit dir“ „Ich lieb dich wie verrückt“ und „Ich denk so oft an dich“ nicht zu verwechseln.

„Frei“ reimt sich auf „Schrei“

Kerstin Ott ist das mal passiert: 2017 performte sie ihre damals aktuelle Single „Lebe laut“ live bei RTL – und vergaß dreimal hintereinander den Text. Aber jetzt kann sie ihn: „Lebe laut / lebe groß / Nimm den ganzen Mut zusammen und leg los / lebe laut / lebe frei / stell dich an den letzten Rand der Welt und schrei“ besingt sie fehlerfrei am Samstagabend in geografisch etwas vagen Bildern (ist „der letzte Rand der Welt“ Feuerland?) das gediegene Wildsein. Und die Fans singen glücklich mit, lassen ihre Katzenöhrchen blinken, und klatschen auf die Eins. Wer sich je gefragt hat, wo das Studiopublikum der ZDF-Hitparade geblieben ist: Hier ist es, und es ist laut und frei.

Jedenfalls bei Kerstin. Nach ein paar Songs über Liebe („Es ist der Morgen nach Marie / so viele Tränen sah ich nie / Es ist der Morgen nach Marie / da geht der Stärkste auf die Knie“), Liebeskummer („Ich lass' dich nicht los / Quäl' mich immer noch / Ich bereue nichts / Denn Liebeskummer lohnt sich doch“) und ein paar Stolperreimen zur generellen Zweisamkeit („Was auch immer passiert /Wir sind für jeden Sturm bereit / Ganz egal, was noch kommt /Glaub mir, zu zweit / Komm'n wir durch jede schwere Zeit“) macht Kerstin nämlich eine Pause, geht samt Band von der Bühne ab, und überlässt einer blonden Frau namens Marina Marx für ein paar Songs das Feld.

Bühne frei für Mariana Marx

Frau Marx hat Playbackbänder dabei, und war anscheinend einst ein schlimmer Finger. Sie sinniert über unverbindlichen Sex („War das wirklich nur ein One Night Stand? / Nur ein Feuer, das sofort verbrennt?“), vergleicht zweideutige Situationen mit Drogenerfahrungen („Wir waren nacktbaden, waren wild und frei / Betrunken vor Glück und von der Liebe high“), und bekennt sich am Ende gar zu jenem One-Night-Stand („Du warst der geilste Fehler meines Lebens“) beziehungsweise „Fahr zur Hölle / aber nimm mich mit“. Ein brandneuer Song namens „Letzter Gast im Swingerclub“ liegt vermutlich bereits in der Schublade.

Liebes-Eskapismus und Toleranz

Aber das Publikum bevorzugt Kerstins verlässliche Paarlyrik, und freut sich, als die Berlinerin zurückkommt. Sie singt irgendwann ihren großen Hit, der die märchenhafte Karriere der ehemaligen Anstreicherin begründete: Ott hatte „Die immer lacht“ Anfang der 2000er geschrieben, der Song geriet ins Internet, wurde dort Jahre später von dem Partyhit-DJ-Duo „Stereoact“ entdeckt, geremixt und in den Charts installiert, und wird inzwischen mit den nur auf den ersten Blick widersprüchlich klingenden Genreangaben „Deep House“ und „Schlager/Volksmusik“ gelabelt. Ott ist dankbar dafür, das betont sie am Samstag oft, für die Karriere, die Liebe der Fans, die Ehefrau, mit der sie schon lange glücklich ist und die sie, das kann man wiederum der einschlägigen Presse entnehmen, auf Tour begleitet.

In ihrer Musik steckt neben dem durch die thematische Verengung (Liebe) erzeugten Eskapismus also auch eine selbstverständliche Toleranz: Der Sound mag stereotyp sein, seine Sängerin ist es nicht – jedenfalls nicht im Vergleich mit der klassischen Schlagersängerin, die üblicherweise Marina Marx ähnelt, und ausschließlich männliche Schlagerfuzzis á la Stefan Mross und Florian Silbereisen küsst.

Selbstbewusstes queeres Leben, das beweisen Ott und ihre Fans, hat seinen Platz in der allerbürgerlichsten Mitte der deutschen Gesellschaft gefunden: Der Schlagerparty. Und selbst wenn es sich nicht immer sauber reimt („Kommt, lasst uns die Welt bemalen / In Regenbogenfarben“) darf es somit auf der Eins beklatscht werden. Da muss man jetzt durch.

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