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Jüdische Kinder in den War Nurseries von Weir Courtney, Lingfield, circa 1948. Links vorne die Betreuerin Manna Friedmann.

© Foto: privat

Kriegstraumatisierte Kinder: Angst vor schwarzen Autos

Die Berliner Psychologin Christiane Ludwig-Körner hat Geschichten von Betreuerinnen gesammelt, die überlebende jüdische Kinder behandelten. Ihr Buch könnte in der Ukraine helfen.

Von Caroline Fetscher

Als vermisst sind sie gemeldet. Sie sollen aus Kinderheimen verschleppt worden sein, zwangsadoptiert, auf der Flucht oder in „Filtrierungslagern“ von ihren Eltern getrennt. Rund 11 500 ukrainische Kinder, so teilte die Regierung in Kiew Ende November mit, seien aus russisch besetzten Gebieten deportiert worden, meist aus Mariupol, Saporischschja und Cherson. Die Kinder, heißt es, sollten „russifiziert“, Eltern und Betreuer in die Verzweiflung getrieben werden.

Kaum eine Erfahrung erschüttert vor allem Kinder so existentiell, wie der Schock, über Nacht alles Vertraute zu verlieren, Gesichter, Stimmen, Gärten, Zimmer, die Nähe der Nächsten. Alles zerreißt, was für das Kind die Welt ausmacht und es mit ihr verbindet. Eines Tages aber müssen Überlebende versuchen, sich wieder zusammenzufügen.

Was das erfordert macht auch ein eben erschienenes Buch deutlich. Christiane Ludwig-Körner schildert darin die Arbeit mit überlebenden jüdischen Kindern nach dem Zweiten Weltkrieg in England.

Die überlebenden Kindern konnten spielen, tanzen, malen

Anna Freud, Tochter und Schülerin von Sigmund Freud, war 1938 mit ihrem Vater aus Wien ins Londoner Exil gegangen. Dort gründete die Kinderanalytikerin mit ihrer Kollegin Dorothy Burlingham zunächst die „Hampstead War Nurseries“, Kriegskindergärten für Ausgebombte, und dann Häuser für Kinder, die Konzentrationslager überlebt hatten. Dafür trainierte Anna Freud jüdische Frauen, ebenfalls Flüchtlinge, im therapeutischen Umgang mit Kindern, fußend auf den Montessori-Prinzipen der Freiheit für Spiel, Musik, Tanz und Malen.

Mit diesen Betreuerinnen sprach die Psychologieprofessorin Ludwig-Körner, Jahrgang 1944, über Jahre hinweg. Sie teilten Fotoalben, Briefe und biographische Geschichten mit ihr: Alice Goldberger, die Schwestern Sophie und Gertrud Dann, Martha genannt „Manna“ Friedmann, Ilse Hellmann, Anneliese Schnurmann und Hansi Kennedy.

Die Interviews begannen 1996, heute lebt keine der Frauen mehr. Dafür gibt es ihre einzigartigen Zeitzeugenberichte, eine wichtige Ergänzung zur den bisher unübersetzten Studien von Rebecca Clifford (Orphans of the Storm: Children After the Holocaust, Yale University Press, 2020) und Sarah Moskovitz (Love despite Hate. Child Survivors of the Holocaust and their Adult Lives, Schocken Books, New York, 1983).

Sie haben ja nicht gewusst, dass sie uns trauen können.

Gertrud Dann, Kindergärtnerin

Ab 1945 und 1946 übernahmen die Frauen um Anna Freud Verantwortung für jüdische Kinder, die „aus der Hölle“ kamen. Neunzig Prozent der jüdischen Kinder Europas waren im Holocaust ermordet worden, ungefähr 150 000 hatten in Ghettos, KZs oder Verstecken überlebt. Widerwillig hatte das britische Innenministerium Transporte mit Militärmaschinen aus Prag erlaubt. So landeten eintausend Kinder aus Theresienstadt und Auschwitz in England, versorgt allein durch ein Netzwerk privater Spender. Geld wollte der Staat nicht dazugeben. Visa sollten nur für zwei Jahre gelten.

Einige Dutzend der Kinder gelangten in die von Anna Freud initiierten, von Spendern gestifteten Anwesen südlich von London. Sie sprachen Tschechisch, Jiddisch, Deutsch, Italienisch, Polnisch, und manche hatten kaum Sprechen gelernt. Einige besaßen Erinnerungen ausschließlich an die Lager. Viele waren verlaust und mussten als erstes geschoren werden, sie hatten Essstörungen, Schlafstörungen, Angst vor Hunden, vor schwarzen Autos – vor Erwachsenen.

„Sie haben ja nicht gewusst, dass sie uns trauen können“, verstand Gertrud Dann. Hatten die Frauen vorher mit ausgebombten Kindern des „Blitzkriegs“ gearbeitet, begegneten ihnen jetzt seelisch ausgebombte Kinder, wie die eine Gruppe aus Theresienstadt im Haus „Bulldogs Bank“, die sich nur untereinander vertraute.

Der unzertrennliche Bund, bemerkte Anna Freud, war ihr Elternersatz. Anfangs bissen, kratzen und schlugen sie, zerstörten und beschmierten Spielzeug und Mobiliar. Es bedurfte der Balance aus Empathie und Abgrenzung, bis die Kinder den Schutz durch die Erwachsenen annehmen konnten.  

Für kleinere Kinder fanden sich nach ein, zwei Jahren englische Pflegeeltern, andere blieben bis zum Schluss der Schulzeit im Heim. Als sie noch im KZ war, berichtete Mann Friedmann über das Mädchen Judith, hatte sie sich in nur in der Leichenhalle waschen können, wo es einen Wasserhahn gab. Das Kind war geplagt von dem Gefühl einer Schuld, als einzige in der Familie überlebt zu haben.

Noch im Erwachsenenalter, erfuhr Manna Friedmann von Judith, dachte sie immer beim Duschen an diese Halle. Doch sie wurde Ehefrau und Mutter und fand, auch, Glück. Für Manna Friedmann, die selber Geschwister im Holocaust verloren hatte, war die Arbeit mit den Überlebenden, so sagte sie, „wie eine Therapie.“ 1946 erhielten die Kinder die britische Staatsbürgerschaft. Die meisten von ihnen blieben in England.   

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