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Graciela Schmilchuk vor Arbeiten von Urs Jaeggi in ihrer Charlottenburger Wohnung.

© Christian Marquardt für den Tagesspiegel

Kunst muss unters Volk: Werksverkauf aus dem Nachlass von Urs Jaeggi

Der 2021 verstorbene Schweizer war Soziologe an der FU, Schriftsteller und Künstler. Die Witwe Graciela Schmilchuk verkauft jetzt seine Werke - als Aktion, die auf das ungelöste Problem von Künstlernachlässen hinweist.

Alles muss raus? Ganz so ist es nicht. Aber eine Art Räumungsverkauf ist es schon, was jetzt mit dem künstlerischen Nachlass von Urs Jaeggi passiert. Graciela Schmilchuk, seine Witwe, und die Freunde Christa Frontzeck und Rolf Külz-Mackenzie bringen in einer konzertieren Aktion Werke des bildenden Künstlers Jaeggi unters Volk. Zu sehr demokratischen Preisen, nach dem Modell „Der Käufer entscheidet über den Preis“.

Die Verkaufsmethode hat der 1931 in Solothurn in der Schweiz geborene Jaeggi, der 2021 in Berlin starb, schon zu Lebzeiten etabliert. Jaeggi war in einem seiner drei Leben ein einflussreicher Soziologe, der als FU-Ordinarius den Machtstrukturen der Eliten in Staat und Wirtschaft ebenso misstraute, wie später im dritten Leben als bildender Künstler dem Kunstmarkt, den er für pervers hielt. Im zweiten war er Dichter und Schriftsteller, der beispielsweise den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt.

Ein schillernder Denker und Macher also, dessen künstlerischer Nachlass trotzdem nicht automatisch unter Artenschutz steht. Wenn auch das Schweizerische Literaturarchiv in Bern den literarischen und wissenschaftlichen Nachlass Jaeggis und einige hundert seiner Zeichnungen übernommen hat. Ebenso wie das Berliner Kupferstichkabinett, das Konvolute als Schenkung erhielt. Der weitaus größere Teil der Zeichnungen, Gemälde, Assemblagen und Skulpturen, die Jaeggi in 30 Künstlerjahren geschaffen hat, befinden sich jedoch bei seiner Familie, die sie keinesfalls horten will.

Die Arbeiten sollen leben

„Das Wichtigste ist, dass die Leute, die Urs‘ Arbeit mögen, sie lebendig halten, in dem sie sich die Bilder zu Hause oder in ihrem Büro aufhängen“, sagt Graciela Schmilchuk. Sie selbst ist in der Charlottenburger Altbauwohnung, in der Jaeggi seit 1982 gelebt hat, von seinen Gemälden und Assemblagen umgeben. 27 Jahre pendelten Jaeggi und Schmilchuk zwischen Berlin und Mexiko City, wo die Kunsthistorikerin, die viel über die politische und soziale Funktion von Kunst geforscht hat, herkommt. 6409 Arbeiten umfasse die von ihm erstellte Inventarliste, sagt Rolf Külz-Mackensie, ein Künstler, Kurator und Publizist, der seit Jahrzehnten mit Jaeggi verbunden ist.

Ein Porträt des Künstlers Urs Jaeggi beim Malen.

© privat

Wie so ein Künstlernachlass aussieht, lässt sich im glücklicherweise trockenen Keller des Hauses begutachten, wo eingewickelte Leinwände und Kartons mit Objekten gestapelt stehen. „Ein Drittel der Arbeiten“, kommentiert Schmilchuk, die das Ausräumen des proppenvollen, chaotischen Wilmersdorfer Ateliers ihres Mannes nur mit Hilfe von Rolf Külz und anderen bewältigt hat. Die Wohnung teilt sie sich inzwischen mit einer Untermieterin, damit sie bloß den Keller weiter nutzen kann. Jaeggis Kunst lagert auch bei seiner ersten Frau, Eva Jaeggi, in Zehlendorf, in einem Storage in Reinickendorf, und einem Ort in beider Zweitheimat Mexiko City, wo Jaeggi sich nur als Künstler betätigt hat. Diese Lager kann Schmilchuk, die mit 76 nach wie vor arbeitet, nicht dauerhaft halten.

Der Marktwert bestimmt das Gedächtnis

Ein Dilemma, das viele Erben von Künstlernachlässen kennen. Es gibt kaum Stiftungen oder sonstige Institutionen, die bereit sind, die Verantwortung zu übernehmen. Die Kapazitäten für Lagerung und Konservierung, und Personal für die Inventarisierung, Forschung oder Ausstellungen fehlen. Auch den Museen fehle der Lagerplatz, sagt Schmilchuk, die durch ihre Arbeit am Instituto Nacional des Bellas Artes gut vernetzt ist. „Sie sind nicht interessiert an Künstler, die nicht für den großen Kunstmarkt gearbeitet haben“. So bestimmt der Marktwert der Kunst letztlich auch, ob sie eine Chance bekommt, im Gedächtnis zu bleiben.

 Fotomalen auf der Leinwand. Eine Arbeit von Urs Jaeggi. 

© Urs Jaeggi

Dass es in digitalen Zeiten nicht darum gehen kann, jedes Blatt und jede Skulptur von Zeitgenossen aufzuheben, sieht Schmilchuk ganz klar. Sie will mit der Aktion ein Zeichen setzen, um auf das Dilemma der Erben hinzuweisen, die von den Nachlässen wortwörtlich überwältigt werden. Ein Land wie Deutschland müsse mindestens eine Institution haben, deren Experten Nachlässe sichten und eine Auswahl treffen können, um wichtige Arbeiten für Forschung und Ausstellungen zu sichern, sagt sie. „Nicht alles muss für immer bewahrt, sondern es muss gut gefiltert werden.“ Damit nicht nur die Werke von Marktgiganten wie Gerhard Richter und Jeff Koons zugänglich bleiben. Sondern eben auch eine repräsentative Auswahl Jaeggis, die nicht verkauft wird.

Der Künstler selbst hat sich in seinem Schaffensrausch nur für die gerade entstehenden, nie für die fertigen Arbeiten interessiert, erzählen Külz und Schmilchuk. Ob sie mit ihm über seinen Nachlass gesprochen hat? Graciela Schmilchuk lacht. „Seine Idee war, alles zu verbrennen – im öffentlichen Raum.“ Das müsse er schon selber machen, habe sie ihm geantwortet. „Wenn du es tust, ist es eine politische Aktion. Wenn ich es mache, ist es kriminell.“ Jaeggi unterließ den Anarchoakt künstlerischer Selbstvernichtung und arbeitete lieber weiter.

„Urs wollte immer machen, machen, machen“, sagt Schmilchuk. Sein Glück, dass er eine Frau und Freunde hat, die dafür sorgen, dass seine Bilder unter die Leute kommen. Bei Mindestpreisen von zehn Euro für Zeichnungen und Objekte kann sich jeder einen Jaeggi an die Wand hängen. Das hätte dem Künstler gefallen, das gefällt seiner Ehefrau. Sie glaube daran, dass Kunst der Gesellschaft etwas gebe, sagt Graciela Schmilchuk. Abgesehen von Einnahmen zur weiteren Nachlasspflege geht es ihr nicht um kommerzielle Interessen, sondern um die soziale Funktion der Kunst. Ohne interessierte Menschen kein Räumungsverkauf.

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