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Das Materielle dient nur dazu, das Immaterielle spürbar zu machen. Arbeiten von Lee Ufan im Hamburger Bahnhof.

© Lee Ufan. Courtesy of Studio Lee Ufan / VG Bild-Kunst, Bonn 2023/Jacopo La Forgia

Lee Ufan im Hamburger Bahnhof: Meister des Minimalismus

Der frische Wind ist spürbar im Hamburger Bahnhof. Asiatische Kunstströmungen sind in Berlin wenig zu sehen. Die Retrospektive des koreanischen Künstlers ändert das.

Der Hamburger Bahnhof zeigt die erste umfangreiche Retrospektive des koreanischen Künstlers Lee Ufan in Deutschland. Das ist insofern bedeutsam, als der 87-jährige Künstler bereits seit sechs Jahrzehnten eine eindrucksvolle asiatische Position im Minimalismus einnimmt. Damit ergänzt Lee das Verständnis von Minimal Art, das im Hamburger Bahnhof bisher von amerikanischen Größen wie Donald Judd, Carl Andre und Sol LeWitt dominiert wurde.

Mit der Soloschau von Lee Ufan agiert das Haus endlich mondial. Längst überfällig ist die Einbeziehung von asiatischen Kunstströmungen, die den westlichen Kanon von zeitgenössischer Kunst vervollständigen. Die Berufung des Direktorenduos Till Fellrath und Sam Bardaouil vor eineinhalb Jahren bringt schon jetzt frischen Wind in die angestaubten Bahnhofshallen.

Über beide Flügel des ersten Obergeschosses sind 60 Positionen aus dem Lebenswerk von Lee ausgestellt, von seinen Frühwerken Ende der 60er Jahre bis zu den neuesten Arbeiten aus diesem Jahr. Sein Oeuvre ist zeitlos und erhaben. Die Gemälde, Skulpturen und Installationen loten das Spannungsverhältnis zwischen Mensch, Natur und Spiritualität aus. Das Materielle dient nur dazu, das Immaterielle sichtbar und spürbar zu machen.

Der Künstler Lee Ufan, geboren 1936 in Südkorea.

© Courtesy of Studio Lee Ufan Photo by Claire Dorn

Geboren wurde Lee 1936 in Südkorea, als das Land unter der Kolonialherrschaft Japans ächzte. 1956 sollte er einem Onkel in Yokohama, Japan, Medikamente bringen. Er nutzte die Gelegenheit, um den Restriktionen nach dem Koreakrieg zu entkommen und blieb kurzentschlossen in Japan. Dort schrieb er sich für ostasiatische und europäische Philosophie ein. Erst danach studierte er die traditionelle japanische Malerei „Nihon-ga“.

Das Jahr 1968 stellt einen Wendepunkt für Lee dar. Es war das Jahr des globalen Aufbegehrens: Mai-Revolution in Frankreich, Vietnamkriegsproteste, die Studierendenunruhen in Japan. Der Ruf nach Frieden und Freiheit war allerorten zu hören. Lee gründete mit anderen gemeinsam die Mono-ha Gruppe, die „Schule der Dinge“.

Vorhandene Ding nutzen

Die Idee war, den künstlerischen Schöpfungsakt, der ja im Zentrum des westlichen Kunstverständnisses stand, weitestgehend zu relativieren. Keine neuen Dinge sollen geschaffen, sondern vorhandene Dinge aus der Natur (Steine, Äste, Erde) genutzt und in Beziehung zu Industriematerialien wie Glas oder Stahl gesetzt werden. Eine reproduzierte aber ikonische Arbeit aus dieser Zeit ist im ersten Raum ausgestellt.

Ein steinerner Findling wurde vom Künstler aus kurzer Distanz auf eine 2,5 mal 2 Meter große Glasplatte fallen gelassen. Rund um den Stein ziehen sich lange Risse durch die Glasplatte bis zum Rand. Und weil der Boden durch das Glas sichtbar ist, scheint es, als hätte der Stein auch im Raum zerstörerische Spuren hinterlassen. Es gilt als das erste Werk seiner „Relatum“-Serie.

In den 70ern wurde Lee von der Dangsaekhwa-Bewegung aus Korea beeinflusst, die monochromatisch malte. Die Serien „From Point“ und „From Line“ sind aus dieser Zeit und in mehreren Räumen ausgestellt. Die Flucht in die Abstraktion, sagt Lee, war eine Art politischer Widerstand. Die Bilder widersetzten sich jedweder politischen Instrumentalisierung zu Propagandazwecken.

Begegnung und Resonanz

Lees abstrakte Kunst unterscheidet sich fundamental von der amerikanischen Minimal Art, der es vorwiegend um Materialität und geometrische Formgebung ging. Für Lee geht es um die Interaktion mit dem Raum und vor allem den Betrachtenden.

Lee sagt in einem Video: „Wenn ich meine Ausstellung in zwei Worten zusammenfassen sollte, dann sind es Begegnung und Resonanz.“ Ein Findling steht einer dunklen Stahlplatte wie in einem Zwiegespräch gegenüber. Der Raum zwischen den beiden Objekten ist wie aufgeladen, die Spannung ist körperlich spürbar. Stark beeinflusst von Martin Heideggers Philosophie will Lee „Begegnungen“ herstellen, denn Dinge und Raum konstituieren sich durch strukturelle Zusammenhänge und menschliche Befindlichkeiten.

Dialog mit der Stille

So ist es kein Zufall, dass Lee seine Werksserien „Relatum“, „Dialogue“, „Correspondance“ oder „Response“ betitelt. Ein Dialog besteht nicht nur aus dem Aussenden einer Botschaft, er erfordert auch das Zuhören, das Warten, die Stille.

So bleibt oft das Zentrum seiner Bilder leer, nur an den Rändern entstehen Linien, Punkte oder Farbverlauffelder, also nur minimale künstlerische Interventionen. Der Betrachter muss diese Leere eine Weile aushalten, um sie als Resonanzraum begreifen zu können, als eine Chance. Irgendwann beginnt sie zu vibrieren und sich scheinbar im Raum auszubreiten. Wie sehen wir die Welt?

Lee bewundert Rembrandt

Ums Sehen und Gesehenwerden geht es auch im Rembrandt Raum. Lee bewundert seit langem den niederländischen Meister. „Stehe ich also vor den Selbstbildnissen Rembrandts, so erzittert das Innerste meiner Seele.“, lässt sich Lee im Katalog zitieren. Zum ersten Mal kann er nun künstlerisch seinem Vorbild begegnen.

Rembrandts „Selbstbildnis mit Samtbarrett“ (1634), ausgeliehen aus der Berliner Gemäldegalerie, tritt in Dialog mit Lees Installation „Relatum – The Narrow Sky Road“. Der Raum ist mit weißem Kies ausgelegt, eine schmale, vier Meter lange, polierte Stahlplatte führt wie ein Pfad zu Rembrandts Gemälde. Wie Wächter hocken zwei Natursteine daneben.

Der Betrachter spiegelt sich in dem polierten Steg aus Stahl und muss sich dem Gemälde von der Seite nähern. Mit jedem Schritt verändert sich die Spiegelung der Decke, der Steine, des Bildes auf dem Grund. Mit dem Blick nach unten sehen wir das Oben und nehmen unsere Umwelt mit einem Mal umfassend wahr. Rembrandts junges Antlitz aber will von uns in Augenhöhe gesehen werden, er will die volle Aufmerksamkeit. Westliche Überhöhung des Egos trifft auf östliches Aufheben der Dualitäten.

Lee war stets ein Wandler zwischen den Philosophien und Kontinenten. Heute lebt er vier Monate in Paris und den Rest des Jahres in Japan. Mit Deutschland fühlt er sich im Geiste verbunden. Zwar ist er weltweit renommiert, zuletzt ehrte ihn das Centre Pompidou in Metz mit einer großen Einzelausstellung, aber mit der Retrospektive im Hamburger Bahnhof ist für ihn ein Traum in Erfüllung gegangen.

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