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„Love Boulevard“ mit Josefin Platt, Philine Schmölzer, Kathleen Morgeneyer, Violet Black, Golden Gai (v.l.), Regie: Lies Pauwels.

© JR Berliner Ensemble

„Love Boulevard“ am Berliner Ensemble : Rotkäppchen als Freier-Fantasie

Außer Thesen nichts gewesen. Regisseurin Lies Pauwels hat „Love Boulevard“ im Berliner Ensemble gemeinsam mit Sexarbeiterinnen und Schauspielerinnen entwickelt. Zwei Lebenswelten mit Parallelen, oder?

„Hallo Mama“, spricht die junge Schauspielerin Philine Schmölzer in ein imaginäres Telefon, „ich bin froh, deine Stimme zu hören.“ Nein nein, es sei alles in Ordnung, beeilt sie sich zu versichern, während ihr Tränen in die Augen treten. Die Leute seien „nett“, die Tage gleichwohl „lang“, und natürlich gehe sie oft auf Partys, um sich „zu präsentieren“.

Aber nein, fährt sie plötzlich entschieden auf: „Natürlich bin ich kein Objekt. Ich bin Schauspielerin.“ Dass Schmölzer dabei ein kurzes Kleid trägt, das durchaus offensiv mit seinem Nachthemd-Appeal spielt, muss man wohl als eine wesentliche Aussage dieses seltsamen Abends im Neuen Haus des Berliner Ensembles verstehen.

Doch der Reihe nach. Es handelt sich um eine Stückentwicklung namens „Love Boulevard“, die die belgische Regisseurin Lies Pauwels zusammen mit vier Sexworkerinnen (Violet Black, Mare D`Angosto, Golden Gay und Ivy Grey) sowie drei BE-Schauspielerinnen (Kathleen Morgeneyer, Josefin Platt und eben Schmölzer) kreiert hat.

Pauwels, die man auch als Performerin aus Abenden von Alain Platel kennt, geht es zwar durchaus um eine „Begegnung mit den Lebenswelten der Darsteller:innen“, wie die Dramaturgin Amely Joana Haag im Programmheft dankenswerterweise betont.

Dokumentarisch ist das nicht gemeint

Allerdings augenscheinlich nicht in einem dokumentarischen Sinn. Außer ein paar mutmaßlichen Freier-Fantasien erfährt man kaum Gegenständliches aus dem Berufsalltag der Sexworkerinnen. Und auch bezüglich der Theater-Lebenswelt hat der Abend mit dem „Hallo-Mama“-Telefonat bereits sein Konkretionspotenzial ausgeschöpft.

Das wäre überhaupt kein Problem – wenn „Love Boulevard“ denn irgend etwas anderes einfiele als im Brustton der Innovationsüberzeugung Thesen zur dramatischen Kunst zu verkünden, die heute selbst diejenigen nicht mehr hinter dem Ofen hervorlocken dürften, die noch nie ein Theater betreten haben: „Es gibt keine klare Grenze zwischen Authentizität und Performance.“ Dazu gesellt sich, quasi als Ko-Leitplanke, die punktuelle Parallelitätsbehauptung zwischen Sexwork und Schauspiel: „Das So-Tun-als-Ob ist Teil unser aller Arbeit“, verkünden die Akteurinnen.

Sexrobotik und Altersangst

Angereichert um Themenfelder wie Altersangst, Einsamkeit oder auch Sexrobotik, wird dieses Thesenwerk auf der Bühne allerdings nicht ausdifferenziert, sondern, im Gegenteil, durch die abendfüllende Produktion maximal ambivalenter Zeichen bewusst verunklart.

Neben der Grenze zwischen Performance und „Authentizität“ wollen Pauwels und das Ensemble offenbar auch diejenige zwischen Lust und Schmerz, zwischen Selbstbehauptung und Projektion, zwischen Liebe und Dienstleistung sowie harmlosem Spiel und bitterem Ernst als brüchig vorführen – und verheddern sich dabei in Klischees, die der Abend doch gerade, wenn wir das richtig verstanden haben, durchdringen wollte.

Wenn sich die Akteurinnen, in Miederwäsche steckend und in Bücher vertieft, etwa minutenlang lasziv auf der Bühne räkeln und gedankenverloren die nylonbestrumpften Beine in die Luft strecken, als gelte es, die klemmigste Lolita-Fantasie aus den 1950ern zu reenacten, kann zumindest frau das jedenfalls durchaus irritierend finden, allerdings eher in einem unfreiwillig komischen denn in einem erkenntnisleitenden Sinn.

Und wozu ist sie genau gebeten, wenn sich eine Darstellerin plötzlich das Rotkäppchen-Kostüm – eine populäre Freier-Fantasie, wie wir erfahren – vom Körper reißt und in einer ekstatischen Akt-Choreografie erzittert, wie überhaupt viel ekstatisch agiert wird in diesem pausenlosen 120-Minüter? „Ich vergesse immer wieder, was ich hier tun soll“, spricht eine Darstellerin einmal über die Rampe. Es ist tatsächlich – und gänzlich ironiefrei gesprochen – der anschlussfähigste Satz des Abends.

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