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Poschmann

© Suhrkamp Verlag/Heike Steinweg

Marion Poschmanns Roman „Chor der Erinnyen“: Das Tief Mathilda braut sich zusammen

Eine Parallelgeschichte zu den „Kieferninseln“ der preisgekrönte Lyrikerin, Essayistin und Romanautorin Poschmann. Niemand verknüpft mythische Motive, Reales und Absurdes poetischer.

Marion Poschmanns letzter Roman „Die Kieferninseln“ begann mit einem verstörenden Traum: Gilbert Silvester wacht da mit dem paranoiden Gespinst auf, seine Frau Mathilda betrüge ihn. Ihr diplomatisch freundliches Verhalten der letzten Wochen scheint geradezu Beleg für die nächtliche Ahnung.

Der Privatdozent, ein Angehöriger des prekären akademischen Proletariats, stellt Mathilda zur Rede; es kommt zu einem unschönen Streit, und schließlich verlässt er wütend das gemeinsame Heim. Impulsiv und gekränkt fährt Gilbert zum Flughafen und bucht den erstbesten Interkontinentalflug, der ihn nach Japan expediert – so beginnt eine bizarre Pilger- und Läuterungsreise auf den Spuren des klassischen japanischen Dichters Basho. Und ein überraschender, fulminanter und feinsinniger Roman.

Überraschend, fulminant, feinsinnig: All das trifft auch auf Poschmanns „Chor der Erinnyen“ zu. In dieser Parallelgeschichte zu den „Kieferninseln“ nimmt die preisgekrönte Lyrikerin, Essayistin und Romanautorin Gilberts Gattin in den Blick, erzählt davon, wie es Mathilda unterdessen ergeht. Während ihr Mann dem Mond über den poetischen Inseln zustrebt, sitzt Mathilda in ihrem Flachbau, auf einem verschatteten Grundstück, in das von allen Seiten die knorrigen Äste von mächtigen Buchen und Linden hereinragen.

Sätze aus Kringeln und Wolken

Vor ihr liegt ein altes Tagebuch aus Jugendtagen, sie verliert sich in den „Kringeln und Wolken ihrer Sätze“; die Tintenlinien schieben sich da übereinander, „ballen sich zusammen zu einem Gewölle, in dem sie für einen Moment die dunklen Locken ihrer Mutter“ erkennt. Dieses Knäuel steckt nicht nur wie ein Kloß im Hals, sondern als grummelndes Gefühl tiefer in der Magengegend: Da braut sich etwas zusammen.

Tatsächlich kommt es für Mathilda knüppeldick. Die sehr auf Distanz und Vernunft geeichte Mathe- und Musiklehrerin wird nicht nur von Jugendfreundin Birte heimgesucht, einer esoterisch-haltlosen Intrigantin. Mit ihrer anderen, etwas flamboyanten Freundin Olivia ist eine Wandertour geplant, aber die endet, weil Birte sich anschließt, in einem ungemütlichen Psychospiel – Männerbekanntschaften eingeschlossen. Und die Mutter, die der Tochter ein gehöriges Päckchen ins Leben mitgegeben hat, erzeugt ein fortwährendes Gefühl des Unbehagens.

Abschottung funktioniert nicht

„Spukhafte Fernwirkung galt in der Quantentheorie als gesichert. Zwei Teilchen kommunizierten über ungeheuerliche Entfernungen miteinander (…). Mathilda hatte es augenblicklich eingeleuchtet. Spukhafte Fernwirkung kannte jede Tochter aus eigener Erfahrung, wenn sie die Stimmungslage ihrer Mutter erspürte, ganz egal, in welcher Entfernung sich diese befand. Zu Mathildas Leidwesen galt dies auch umgekehrt, ihre Mutter wusste über geheimnisvolle Kanäle immer Bescheid, wie es um ihre Verfassung bestellt war.“

Abschottung funktioniert nicht mehr, überhaupt scheinen alle gut erprobten Abwehrmechanismen außer Kraft. Mathilda hält die Zügel nicht mehr in der Hand, ja, zügellos scheint sie sich durch ihre Welt zu bewegen: Über ihre Schüler verliert sie die Kontrolle, ihr Innenleben kollabiert, und von außen pfuscht auch ständig jemand rein – und wenn es Wetter und Klima sind. Es ist das heißeste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, die Tiefdruckgebiete tragen Frauennamen, „und sie stellte sich vor, wie das Tief Mathilda über diese Gegend hereinbrechen würde, mit Hagelschlag, Sturm und Orkanböen“. Wälder brennen, Äste brechen, die Dürre west.

Bäume, die im Werk Marion Poschmanns tief verwurzelt sind, bieten keinen Schutz und keinen Halt mehr. Und das Kunstunterrichts-Elaborat eines Kindes, aufgehängt im Schulflur, verfolgt sie regelrecht: Es ist die detailgenaue Zeichnung einer Sirene mit Flügeln, Krallen, Brüsten, einem bärtigen Frauengesicht, dessen bestechender Eindruck noch vom ehrgeizlosen Gesang einer Schülergruppe übertönt wird: „Von verführerischem Sirenengesang konnte keine Rede sein, eher näherten sie sich mit ihrem Gemaule und Geseufze dem grauenerregenden Chor der Erinnyen.“

Tragikomischer Grundton

Man hört, das ist nicht ohne Witz, gespielt allerdings auf einem tragikomischen Grundton. Mathilda lauscht und beobachtet, aber die Realität bekommt eine andere, mythische Gestalt: Geflügelte Frauen, Sirenen und Harpyien drängeln sich nun in ihrem Kopf, ihre Konturen lösen sich auf, der abwesende Mann gibt Rätsel auf, die geifernden Erinnyen wollen sich an ihr rächen, und sie bietet eine Angriffsfläche für die Stürme, die um sie tosen. Sie wird sich selbst unheimlich und leicht wie ein Blatt.

Wie Marion Poschmann Naturskizzen mit mythischen Bildern verknüpft, Reales mit Absurdem, wie sie die langsamen Dissoziationsprozesse ihrer Figur verfolgt, mal mit erbarmungslos sachlichen, dann wieder poetischen und immer wieder auch humorvollen Blicken, das ist meisterlich. Nicht, dass sich dieser Figur und ihren inneren Dämonen ganz auf die Schliche kommen ließe. Nicht, dass die feingewobene Struktur des Textes sich ganz auflöste. Gerade das aber macht diesen Komplementärroman zu den „Kieferninseln“ besonders, rätselhaft und vielsinnig.

Wo der Mann vor seinem Unbehagen flieht und ins Weite strebt, geht es bei seiner Frau tief ins Innere – Zweifel, Verzweiflung und klimatische Katastrophen inbegriffen. Ein jeder leidet eben für sich allein, aber die Spielarten des Leids sind geschlechterspezifisch womöglich nicht ganz zufällig.

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