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Kultur: Meer von Lügen

Wie eine jüdische Familie unter Nazis überlebt: Valentin Sengers Erinnerungen „Kaiserhofstraße 12“

Die Szene ist nicht ohne Komik: Da holt der vom „Nazibazillus“ infizierte Biolehrer den kleinen Valentin Senger nach vorn, drückt ihm den krummen Zirkel an den Kopf, rechnet und schlägt in seinen Tabellen nach, um dann der Klasse stolz zu verkünden: „Senger – dinarischer Typ mit ostischem Einschlag, eine kerngesunde arische Rasse.“ Ohne im Mindesten zu ahnen, dass er einen waschechten Sohn emigrierter Ostjuden vor sich hat.

Offenkundig tat der Familienstammbaum, den jeder Schüler in die Schule mitzubringen hatte, seine Wirkung. Im Fall Valentin Sengers erzählte er eine gänzlich erfundene Geschichte von braven Wolgadeutschen, die es nach Frankfurt am Main verschlagen hatte – und verschwieg das ungleich bedeutendere Schicksal der Rabisanowitschs und Sudakowitschs, von denen viele Angehörige bei Pogromen in Russland und der Ukraine „erschlagen, erstochen, vergewaltigt und dann erdrosselt vom aufgehetzten Mob“ wurden. „Aber dieser Stammbaum“, so der Icherzähler, „wurde nie geschrieben“, der andere dagegen, der fiktive, „zu einer starken Strebe in unserem Lügengebäude“.

Valentin Sengers Erinnerungen erschienen erstmals 1978, ein Jahr bevor auch hierzulande die TV-Serie „Holocaust“ in Sachen Erinnerungskultur eine Zäsur markierte. Sie wurden respektvoll besprochen, zwei Jahre später sogar verfilmt – und angesichts der anhaltenden Flut an Überlebensgeschichten weitgehend vergessen. Für den Leser der Neuausgabe hat die Autobiografie des 1997 verstorbenen Fernsehredakteurs nichts von ihrer Unglaublichkeit verloren: Da überlebt eine fünfköpfige ostjüdische Familie, kommunistisch dazu, die NS-Zeit mitten in Frankfurt, vor aller Augen in einem Hinterhaus; täglich müssen die Sengers mit der Gestapo vor der Tür rechnen.

Haben wir nicht alle inzwischen gelernt, dass Hitlers Volksgenossen die Diskriminierung, später Deportation ihrer jüdischen Mitbürger wenn nicht mit Beifall, so mit Ignoranz begegneten? Offenbar gab es auch das Gegenteil. Denn dass die Sengers Juden waren, war vielen der illustren und im Buch liebevoll porträtierten Bewohner der Frankfurter Kaiserhofstraße (zwischen Hauptwache und Opernplatz) bekannt, schon deshalb, weil der Vater, Veteran der gescheiterten russischen Revolution von 1905, „immer nur gejidelt (hatte). Auch noch später, während der ganzen Hitlerzeit“. „Na, Jiddche, wie hammers?“, sprachen Nachbarn den kleinen Valentin vor 1933 an.

Doch gab es im „Dritten Reich“ offenbar auch ein Wegsehen, das kein Ausdruck von Gleichgültigkeit war, sondern eine Form des Widerstandes. Kurz nach der „Machtübernahme“ erscheint ein Polizeimeister bei den Sengers und erklärt, er habe die Einwohnermeldekarte der Familie in „religionslos“ geändert. „Man könnte mit Recht fragen, was den Polizeimeister Kaspar veranlasst hat, eine so riskante Korrektur ... vorzunehmen“, schreibt Senger. „Ich weiß es, bei Gott, nicht. Er tat es einfach.“ Ein anderes Mal lobt eine Nachbarin die Sengers im Treppenhaus lautstark als „ordentliche Volksgenossen“, als eine andere sich wundert, warum diese nicht schon längst abgeholt wurden. Der Chef eines Metallbetriebs stellt Valentin Senger als Lehrling ein, obwohl – oder gerade weil – er von dessen Abstammung weiß; ein SS-Arzt, der den Erzähler untersucht, erkennt auf den ersten Blick dessen rituelle Beschneidung, denunziert seinen vor Angst halb ohnmächtigen Patienten aber nicht. Überhaupt waren sexuelle Beziehungen für den jungen Juden stets ein Spiel mit dem Feuer, von dem die Mutter nichts wissen durfte. „Du hast ja e Juddeschwänzche“, sagt eine Dirne nur verblüfft, und: „Macht doch nix, ist mir doch egal, wer du bist.“ Kleine Akte der Menschlichkeit, an die Senger in seiner Autobiografie erinnert.

Und ebenso an den psychischen Preis, den die jahrelange Mimikry die Familie kostete. Schon in der Volksschule kaute sich der kleine Valentin die Nägel blutig, weil er zum rassistischen Geschwätz der Lehrer schweigen muss. „Haben wir nicht schon genug Zores (Ärger)?“, schimpft die Mutter, als er doch einmal die Beherrschung verliert und ein Propagandablatt zerreißt. Später arbeitet Senger in einem Rüstungsbetrieb, ehe er in den letzten Tagen des Regimes sogar noch eingezogen wird und die Wehrmachtsuniform tragen muss. Bei Kriegsende beschützt er als Deserteur deutsche Frauen vor marodierenden polnischen Zwangsarbeitern. Es braucht Tage, bis er gegenüber US-Soldaten die Kraft findet, seine wahre Identität preiszugeben, so sehr hatte er die falsche verinnerlicht.

In Sengers glänzend erzählten Erinnerungen findet sich kaum ein Wort der Anklage gegen die Nazis – wohl aber, und das macht den Leser umso betroffener, gegen die Frau, der die Familie ihr Überleben ebenso verdankt. Die couragierte Mutter deren Herz 1944 der Belastung nicht mehr standhielt, war „eine jüdische Mamme, wie sie im Buch steht“: „In einem Meer von Lügen hast du uns schwimmen gelehrt und uns das Lügen zum Lebenselement gemacht“, schreibt der Erzähler. Ihre harte Überlebensschule habe aus ihm zeitlebens einen Duckmäuser gemacht, voller Ängste und Komplexe.

Valentin Sengers Autobiografie „Kaiserhofstraße 12“ steht nicht zuletzt im Zeichen von Selbsttherapie und Identitätsfindung: „Deine Absichten mögen gut gewesen sein, aber du konntest nicht voraussehen, was du damit angerichtet hast, diese seelischen Verwachsungen, die aus einem jahrzehntelangen Selbstverleugnen entstehen mussten, und die zu überwinden mich noch einmal Jahrzehnte kostete, bis ich endlich ohne Zittern in der Stimme sagen konnte: Ich bin ich, der Sohn von Moissee Rabisanowitsch aus Nikolajew und Olga Moissejewna Sudakowitsch aus Otschakow, ein Ostjude, in Frankfurt geboren und aufgewachsen, und durch tausend Zufälle den Häschern des Hitlerfaschismus entgangen.“

Valentin Senger: Kaiserhofstraße 12. Mit einem Nachwort von Peter Härtling. Schöffling Verlag, Frankfurt/Main 2010. 315 Seiten, 19,90 €.

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