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Die Nonnen der Abtei Notre Dame de Fidélité beim Gebet.

© Waiche Ilan

Die größte Audio-Datenbank für Kirchenmusik: Mittelalter trifft Moderne

Jetzt per App zu entdecken: 7000 Stunden Gregorianik, gesungen von französischen Nonnen.

Die Idee klingt ziemlich verrückt: Kann man, fragte sich der Musikwissenschaftler John Anderson, sämtliche Gregorianische Choräle von Nonnen einsingen lassen und diese 8760 Stücke dann über eine App der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen? Und weil der 39-jährige Amerikaner nicht nur Theoretiker ist, sondern als Gründer des alternativen Klassiklabels Odradek Records auch Praktiker, setzte er das Vorhaben gleich selbst in die Tat um.

Anderson ist allerdings familiär vorbelastet. Seine Tante lebt seit Langem in Südfrankreich in der Abtei Notre Dame de Fidélité. Darum gelang es ihm schließlich, die zunächst zögerlichen Ordensschwestern von Jouques zu überreden, bei den Mammutprojekt mitzumachen. Ihr Alltag sollte davon allerdings so wenig wie möglich gestört werden. Es wurden lediglich acht Mikrofone in ihrem Gebetssaal installiert, vor jeder Messe starteten sie die Aufnahme auf einem Tablet, anschließend wurden die Daten an die Toningenieure geschickt.

Diese Stücke gehören seit Jahrhunderten zur Liturgie

„Ora et labora“ lautet das Credo der Nonnen, mehrere Stunden pro Tag beten und singen sie zusammen. Und so konnte seit dem Frühjahr 2019 die weltweit größte Audio-Datenbank mit Kirchenmusik entstehen, 7000 Stunden Tonmaterial, das komplette liturgische Repertoire des gregorianischen Chorals mit seinen Chorälen, Hymnen, Psalmen und Messgesängen.

Der musikalische Kanon gehört zwar seit Jahrhunderten zum Leben der Christenheit, vieles davon ist zuvor aber noch nie aufgezeichnet worden, erklärt John Anderson, der in Oxford Musikwissenschaft studiert hat. Schlicht, ja archaisch wirkt die Gregorianik für heutige Ohren. Die Melodien, die oft im Wechsel zwischen einer Solostimme und dem Chor vorgetragen werden, orientieren sich eng am Sprachfluss der lateinischen Sprache. Eine Instrumentalbegleitung gibt es nicht, der Gesang bleibt stets einstimmig, das Tempo ist getragen.

"Ora et labora" lautet das Credo der Benediktinerinnen.

© Fabrice Veigas

Man kann an dieser Musik die unerschütterliche Glaubensgewissheit schätzen oder aber – vom religiösen Kontext losgelöst – auch einfach nur den meditativen Charakter. Andersons Entscheidung, nicht Profis für sein Projekt zu engagieren, sondern musikalische Laien in ihrem Alltag aufzunehmen, ist da nur folgerichtig: Also hört man die Benediktinerinnen auch husten und die Seiten umblättern, das Chorgestühl knarrt, mal fällt auch ein Buch zu Boden oder es schleichen sich falsche Töne ein. Aber der Klangeindruck wirkt dadurch absolut authentisch, die Gregorianischen Choräle werden nicht als etwas Historisches vorgeführt, sondern als gelebte Praxis.

Seit dem 13. Jahrhundert gibt es eine Notenschrift

Gesungen haben die Menschen schon immer, der nach Papst Gregor I. benannte Musikstil wurde als erster schriftlich fixiert. Mönche versuchten im neunten Jahrhundert mit Hilfe eines Systems von Akzentzeichen, den so genannten Neumen, die Sprechgesänge auf Papier festzuhalten. „Neumz“ nennt John Anderson darum auch seine App. Erst ab dem 13. Jahrhundert entstand eine autonome Notenschrift, zunächst mit eckigen Noten, wie man sie noch heute in Gesangsbüchern sehen kann.

Die „Neumz“-App kostet 7,99 Euro pro Monat, als Jahresabo knapp 80 Euro. Zum Mitsingen und -beten werden die Partituren sowie Übersetzungen der Texte in mehreren Sprachen mitgeliefert. Da es in vielen Klöstern an Nachwuchs fehlt, könnten sich die wenigen Mönche oder Nonnen dort bei ihren Stundengebeten von der App vokal unterstützen lassen. Nutzwert hat die App aber auch für den Musikunterricht oder für Kirchen, die ihre Sakralräume während der Öffnungszeiten für Besucher beschallen wollen. Die Einnahmen gehen übrigens zu zwei Dritteln nach Benin, an das afrikanische Tochterkloster der südfranzösischen Nonnen.

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