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In der Evangelischen Gedenkkirche Plötzensee sind die wiederentdeckten Zeichnungen Hrdlickas zu sehen.

© Sebastian Rost; Ev. Kirchengemeinde Charlottenburg-Nord

„Plötzenseer Totentanz“: Verschollene Zeichnungen von Alfred Hrdlicka wiederentdeckt

Die Zeichnungsserie des Wiener Künstlers ist eines der wichtigsten Kirchenkunstwerke Berlins. Hrdlicka hat für seine Bilder die Berliner Hinrichtungsbaracke der Nazis genau studiert.

Einer wird gerade abgeführt. Brutal packt der Uniformierte den Todeskandidaten, dreht ihm die gefesselten Hände auf den Rücken, zwingt ihn in eine gebückte Haltung. Wohin es geht, zeigt eine zweite Zeichnung Alfred Hrdlickas: Im Nebenraum hängt schon ein Gehenkter am Stahlhaken, durch eine offene Tür zu sehen. Mit heftigen, raschen Linien hat der Wiener Künstler die Körper umrissen. Schraffuren legen Dunkelheiten darüber.

In zahlreichen Vorzeichnungen entwickelte er 1969 seine Ideen für den „Plötzenseer Totentanz“. 27 davon präsentierte er in Berlin. Damals war der Bestimmungsort für das ursprünglich als Freskozyklus gedachte Auftragswerk, die evangelische Gedenkkirche Plötzensee, noch im Bau.

Zwei der großformatigen, verschollen geglaubten Zeichnungen sind unlängst wieder aufgetaucht: Die Witwe des Pfarrers Christof Karzig übergab sie der Gemeinde. Künftig sollen sie im Kirchenraum ihren Platz finden, zusammen mit den dort angebrachten ausgeführten 16 Tafeln. Hrdlickas verdichtete Szenen von Gewalt und Tod bilden, über drei Meter hoch und in schwarzweiß ausgeführt, eines der wichtigsten Kirchenkunstwerke Berlins aus der Nachkriegszeit. Ihr Fixpunkt ist der nahe Täter- und Opferort: die Haftanstalt Plötzensee.

Szenen von Gewalt und Tod

Die Initiative für den ungewöhnlichen Zyklus ging seinerzeit vom amtierenden Pfarrer Bringfried Naumann aus. Der jetzige, Michael Maillard, hat ihn noch gekannt. Ein großer Kunstfreund sei er gewesen. Auf Hrdlickas Werke wurde er in einer Berliner Ausstellung aufmerksam. Dessen figürliche Kunst hob sich mit politisch-sozialer Härte und Lesbarkeit ab von der abstrakten Nachkriegsmoderne.

Gleich neben dem evangelischen Gotteshaus, einem unscheinbaren Betonbau, steht die katholische Gedenkkirche Maria Regina Martyrum, wie ein Gegenpol. In ihrem lichten Kirchenraum dominiert ein gewaltiges, nahezu abstraktes Altarwandgemälde: Die farbige Sphärenmalerei von Georg Meistermann bietet Hoffnung, Transzendenz und Trost, auch durch das winzige, zarte Friedensmotiv des Opferlamms. Hrdlickas Totentanz stellt keine Erlösung in Aussicht. Hier ist das Grauen Gegenwart, die Erinnerung kein Entkommen.

Die Kirche steht in einem sozialen Brennpunkt, der 1960ern errichteten Paul-Hertz-Siedlung. Viele Straßen hier sind nach Widerstandskämpfern benannt. Für die Erhaltung des fragilen Hrdlicka-Zyklus fehlt es der Gemeinde an Geld. Die restauratorischen Voruntersuchungen konnten zwar abgeschlossen werden. Aber nun müssten dringend die alten Abdeckscheiben ausgetauscht werden. Unterstützer werden gesucht.

Hinrichtungsstätte für Opfer der NS-Diktatur

Hier im Norden Charlottenburgs überzieht ein ganzes Netzwerk von Erinnerungsorten die historische Topografie, verbunden durch einen Pfad mit Infotafeln. Die Gedenkstätte Plötzensee entstand 1952 als eines der ersten Mahnmale nach Kriegsende, mittlerweile ein Zeugnis der sich wandelnden Gedenkkultur: Ihre gigantische, würdevolle Travertinwand verdeckt den dahinterliegenden authentischen Ort. In dem Hinrichtungsschuppen aus Backstein wurden mehr als 2800 Opfer der NS-Unrechtsjustiz enthauptet oder gehenkt.

Eine planmäßige Maschinerie des Tötens, oft aus nichtigem Anlass. Zwei Fischkonserven gestohlen zu haben, reichte. Oder ein Anschlag auf Hitler. Alfred Hrdlicka hat diesen Ort gründlich studiert: Die beiden Rundbogenfenster und der Stahlträger mit den stählernen „Fleischerhaken“ tauchen auf jedem seiner mit schwarzer Kohle gezeichneten Wandbilder auf, unerbittlich.

Einen modernen Totentanz sollte der Künstler schaffen, so die Idee des Pfarrers. Doch getanzt wird bei Hrdlicka nicht. Anders als in spätmittelalterlichen Totentanzzyklen, etwa in der Marienkirche, reihen sich hier keine Paare Arm in Arm mit dem Gerippe Gevatter Tod. Bei Hrdlicka geht es um pure Gewalt, Gewalt zwischen Menschen.

Biblische Motive verschränken sich mit der Gegenwart. Im Boxring wie auf der Demo obsiegt das Recht des Stärkeren. Kopfüber zwischen Polizisten wird ein Inhaftierter davongeschleift: Benno Ohnesorgs Tod verarbeitete Hrdlicka später, ganz ähnlich, auch in einem Bronzerelief für einen Standort nahe der Deutschen Oper. Tatsächlich bildete das Großprojekt „Plötzenseer Totentanz“ in seinem Werk den Ausgangspunkt vieler Motive, die er weiterentwickelte.

Die Reihenfolge der Tafeln selbst hat keinen klaren Anfang und kein Ende. In dem fast lichtlosen, quadratischen Kirchenraum verdichtet sich die Erzählung zu düsterer Präsenz. Erst nachträglich und widerstrebend war Hrdlicka bereit, auf Wunsch des Pfarrers einen Funken Hoffnung aufschimmern zu lassen.

Er lieferte drei Tafeln zum vorgegebenen Thema Emmaus, Abendmahl und Ostern nach. Auch sie spielen in der Hinrichtungsbaracke Plötzensee. Jetzt sitzt inmitten der Häftlinge ein Kahlgeschorener, über dessen Gesicht ein heller Lichtschein liegt. Er sieht nicht aus wie Christus. Aber er bricht das Brot. Nebenan wird einer der Todeskandidaten gerade abgeführt. Aber diesmal geht er kerzengerade, erhobenen Hauptes, nicht bereit sich zu beugen.

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