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„Am Strand der weiten Welt“ 
mit Alexander Khuon und
Kathleen Morgeneyer

© Arno Declair

Premiere am Deutschen Theater: Wenn eine Familie zerbricht

Simon Stephens gehört zu den viel gespielten Dramatikern der Gegenwart. Nun auch wieder in Berlin mit „Am Strand der weiten Welt“

Hier wollen alle ein anderes Leben. Aber so offensichtlich ist das nicht, denn man hat sich eingerichtet miteinander, der familiäre Handwerksbetrieb läuft einigermaßen ordentlich. Sonntags gibt es Fußball im Fernsehen und Braten, und Fluchtfantasien lassen sich schwer in die Tat umsetzen. Simon Stephens setzt Familie mit Schwerkraft gleich. Die Menschen sind am Boden festgemacht. Und vor dem Fliegen hat man Angst.

Der Engländer, 1971 in Manchester geboren, gehört auch bei uns zu den viel gespielten Dramatikern. „Am Strand der weiten Welt“, das jetzt in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Premiere hatte, ist allerdings schon ein etwas älteres Stück, Baujahr 2005. Was den Dialogen anzumerken ist. Aber schließlich funktioniert heute ja auch ein Ibsen noch, ein Strindberg oder Tschechow. Die hier porträtierte Mittelklasse mag im Verschwinden sein, ihre seelischen Nöte und emotionalen Verwerfungen bleiben universell.

Wenn ein Kind stirbt

Großmutter will das Haus verkaufen, sie will raus. Großvater wird handgreiflich. Und erinnert sich an eine lang zurückliegende Beinahe-Affäre, der er nachtrauert. Sein Sohn gefällt einer Kundin verdammt gut – sie sucht, wie es scheint, einen Mann für sich und ihr Baby. Und der ältere Enkelsohn zieht mit Freundin aus, nach London. Das bricht seiner Mutter schier das Herz.

Und dann stirbt der Jüngste mit fünfzehn Jahren bei einem Verkehrsunfall. Die Trauer, das Entsetzen, die Schuldgefühle reißen das brüchige Arrangement auseinander. Ein well made play, so hätte man das früher genannt, ein Stück mit ausgebauten Rollen, Charaktertypen, einer verzweigten und doch ins Ziel führenden Story. Realistisches Theater. Und damit haben wir ein Problem, nicht nur an diesem Haus.

Probleme mit der Glaubwürdigkeit

Hier geht es nicht um Thesen oder Textflächen, Stephens liefert keine Performance-Vorlage. Man muss Menschen spielen – und sie sich entwickeln lassen. Auf einer leicht angehobenen Rundbühne (von Wolfgang Menardi) sitzt Familie Holmes wie auf dem Präsentierteller. Wie einst bei Jürgen Gosch sind sie auch die ganze Zeit über anwesend, beobachten einander.

Ein Kühlschrank, ein alter Fernseher mit Antenne, ein paar Küchenmöbel, mehr nicht. Und eine Gitarre: Darauf spielt der Jüngste auch noch im Tod. Er geht nicht weg. Sein Geist überschattet die Angehörigen, die auch in der tiefsten Trauer voneinander davonlaufen, und jetzt erst recht.

Die Regisseurin Daniela Löffner hat, um genau zu sein, ein Glaubwürdigkeitsproblem. Ihre Welt hier dreht sich viel zu schnell. Atemlosigkeit, Hektik prägt die Dialoge gleich zu Beginn zwischen dem schlaksigen Alex (Niklas Wetzel) und seiner ersten großen und ziemlich draufgängerischen Liebe Sarah (Wassilissa List). Peter (Alexander Khuon) und Alice (Kathleen Morgeneyer) sind ein trauriges Paar; zu jung geheiratet, nie etwas mit anderen erlebt, und auch sie bekommen nur ganz am Schluss, im Moment tiefster Verzweiflung, kurz vor einer Trennung, endlich eine ruhige Szene. Dass man auch einmal mitkommt mit den sich überstürzenden Gedanken und Gefühlen.

Riskanter Einsatz des Autors

Völlig daneben die Begegnung von Alice und der Frau, die ihren Sohn überfahren hat, ohne dass sie direkt Schuld träfe. Diese Joanne (Katrin Wichmann), deutlich schicker und gebildeter als die Holmes-Sippe, liebt Frauen und verliebt sich in die trauernde Mutter. Das dauert alles nur Sekunden, da wälzen sie sich am Boden. Hier spekuliert Simon Stephens schon sehr riskant, mit hohem Einsatz. Dafür bräuchte es, soll es nicht peinlich sein, eine völlig andere Intensität.

Die Regisseurin Daniela Löffner

© Doris Spiekermann-Klaas TSP/Doris Spiekermann-Klaas TSP

Und sonst öffnet Opa Charlie eine Büchse Bier nach der anderen – ein brummiger Typ (Peter René Lüdecke), der seine Frau nie wirklich wahrnimmt. Auch nicht, wenn Ellen (Barbara Schnitzler) ihn fast schon verlassen hat, innerlich. Bierbüchsen zischen und ploppen, und hat jemand mal ‘ne Zigarette? Küchenrealismus ohne Küchentisch. Es ist einfach verdammt schwer, diesen Leuten irgendetwas abzunehmen.

Der Junge aus dem Jenseits sing Songs von Nick Cave. Er hat eine wunderbare Stimme. Jona Gaensslen, erst achtzehn Jahre alt, spielt den Christopher. Er wird zum stillen Zentrum einer durcheinandergewirbelten Familie, so ist es wohl gedacht. Ihm hätte man noch eine Weile zugehört, er hat noch ein Geheimnis, eine Neugier auf die Welt. Doch die Hälfte der reichlich zwei Stunden Spielzeit ist er eben stummer Gast.

Simon Stephens hat ein gutes Gespür für sozialen Verwerfungen, ein im Grunde politischer Autor. Im Brexit-Britannien hätte er dieses Stück auch nicht mehr so geschrieben. Da fehlen jetzt Realität und Hintergrund, und das irritiert dann doch zunehmend. Krebsverdacht bei Opa, er geht ins Krankenhaus. Da würden sie ihn heute vielleicht gar nicht mehr annehmen.

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