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Tilda Swinton als Orlando im gleichnamigen Film, fotografiert von Regisseurin Sally Potter.

© Foto: Sally Poter

Queerness-Ausstellung bei C/O Berlin: Lieben im Verborgenen

Die Ausstellung „Queerness in Photography“ ist ein politisches Statement. Sie verbindet historische Aufnahmen mit aktuellen künstlerischen Positionen.

In den Achtzigern lebt ein Teenager namens Sébastien Lifshitz in Paris. Als junger schwuler Mann sucht er nach einem Selbstverständnis, danach, was es heißt, queer zu sein. Er findet es an einem unerwarteten Ort: auf dem Flohmarkt.

Dort entdeckt er private Fotografien, die augenscheinlich Männer in Frauenkleidung zeigen. Spuren vergangener Leben, die wegen der Moralvorstellungen der damaligen Zeit im Verborgenen gelebt werden mussten. 

Rund vierzig Jahre später ist Lifshitz ein etablierter Künstler. Er schreibt Drehbücher, dreht Filme, unterrichtet – und sammelt noch immer Amateuraufnahmen von Menschen, die mit der Art, wie sie sich kleiden und inszenieren, Gender-Grenzen durchbrechen.

Ein unbetiteltes Polaroid von Walter Pfeiffer.
Ein unbetiteltes Polaroid von Walter Pfeiffer.

© Foto: Walter Pfeiffer

400 Fotografien davon hat er nun dem Ausstellungshaus C/O-Berlin zur Verfügung gestellt. Unter dem Titel „Under Cover. A Secret History of Cross-Dressers“ sind sie Teil des Ausstellungs-Triumvirats „Queerness in Photography“, das am Freitagabend eröffnet wurde. 

Lifshitz’ Beitrag wird im Erdgeschoss des Hauses von einer weiteren Sammlung privater Aufnahmen flankiert: Cindy Sherman, die renommierte Foto- und Verwandlungskünstlerin, ist auf ein Album mit Bildern aus der sogenannten „Casa Susanna“ gestoßen, einem Haus in den Bergen des Bundesstaats New York, das in den Fünfzigern und Sechzigern zum Rückzugsort für Cross-Dresser und trans Frauen wurde.  

Dort haben sie sich gegenseitig fotografiert, um im Bild festzuhalten, wie sie sich ihrer selbst am nächsten fühlten. Aber auch, um eine Gruppenidentität zu schaffen – und mit ihm ein Empfinden der Zugehörigkeit. „Es sind einfach Männer, die aussehen wollen, wie ihre Mutter, ihre Schwester oder ihre Frauen“, erklärt Lifshitz beim Rundgang.

Ein anonymes Porträt aus den USA, 1930er Jahre.
Ein anonymes Porträt aus den USA, 1930er Jahre.

© Foto: Sébastien Lifshitz Collection

Der Künstler hat selbst unlängst einen Dokumentarfilm über die „Casa Susanna“ gedreht, aus dem ein achtminütiger Auszug in der Ausstellung zu sehen ist. Die meisten dieser Männer seien weiß gewesen und „straight“, sagt er. Das Haus war ihr Safespace. So wirken sie auf den Fotografien geradezu befreit – und glücklich. 

Ein ähnliches Glück lässt sich auch auf dem Gesicht von Casil McArthur ausmachen. Auf einem Bildschirm, der in der oberen Etage des C/O aufgebaut ist, sieht man ihn mit stillem Lächeln eine E-Gitarre bearbeiten und ordentlich Krach machen.

Mit Vokuhila und freiem Oberkörper, erst gebeugt über das Instrument, dann auf Knien spielend, nimmt er Rockstar-Posen ein. Posen, die nach wie vor eindeutig maskulin konnotiert sind. 

Casil McArthur jedoch ist mit den körperlichen Merkmalen einer Frau zur Welt gekommen. Neben dem Bildschirm sind sieben großformatige Fotografien der New Yorker Künstlerin Collier Schorr ausgestellt, von der auch das Video stammt.

Transformation eines Körpers

Sie zeigen, wie Casil McArthur sich zwischen 2015 und 2018 verändert hat – wie er transitioniert ist und seinen Körper seinem Empfinden angepasst hat. Intime Aufnahmen, größtenteils Schwarz-Weiß: Man sieht einen weiblichen Akt, weiter rechts ein Bild von McArthur vor einem Spiegel, auf seiner Brust die Narben der Brustamputation.  

Schorrs Arbeit „Untitled (Casil)“ gehört zu „Orlando“, dem dritten Teil des Ausstellungs-Reigens. Der Titel bezieht sich nicht nur auf einen Roman von Virginia Woolf aus dem Jahr 1928, sondern auch auf die Verfilmung durch Sally Potter von 1992. Der Film sollte an dieser Stelle benannt werden, da dessen Hauptdarstellerin, Tilda Swinton, diesen Teil der Schau kuratiert hat. 

Im Auftrag des Fotografie-Magazins „Aperture“ bat sie 2019 Künstlerinnen und Künstler, Werke mit Bezug zu Woolfs Roman auszuwählen und einzureichen. Elf dieser künstlerischen Positionen hat sie in der Ausstellung zusammengeführt. 

Jahrhundertelang leben ohne zu altern

In Buch und Film geht es um eine adlige Person, die die Jahrhunderte durchlebt, ohne zu altern, und dabei fließend ihre Identität wechselt. In einer berühmten Passage geht Orlando als Mann schlafen und wacht am Morgen als Frau wieder auf.

Doch die ausgestellten Arbeiten befassen sich nicht nur mit Gender-Fragen, sondern auch mit jenen nach Klasse, Alter und rassistischen Zuschreibungen – mit Wandel schlechthin, wie ihn auch Casil verkörpert. 

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Die Schau „Orlando“ zeigt die Früchte, die aus dem geschichtlichen Wurzelwerk gewachsen sind, das das C/O im Erdgeschoss ausstellt. Doch so unterschiedlich alt die Fotografien sein mögen, die das Haus zum Thema „Queerness“ vereint, sind sie doch durchweg hochgradig politisch. Sie fordern einen heraus, die Kategorien zu überdenken, in die man Menschen beim Betrachten automatisch einordnen will.

Dem fügt das C/O noch eine Veranstaltungsreihe mit Filmvorführungen, Diskussionen und Performances hinzu, die eine weitere Diskursebene einziehen: Sie erweitern die Wirkungsweise der Ausstellungen, brechen sie auf und machen diese Wirkungsweise selbst zum Thema. 

Die historischen Fotografien, die Sébastien Lifshitz für seine Sammlung „Under Cover“ zusammengetragen hat, stammen aus einem Zeitraum von 120 Jahren: von 1860 bis 1980. Er ordnet sie in 14 Kapiteln an, in drei Fällen sogar in Form eines chronologischen Zeitstrahls.

Querschnitt durch die Fotogeschichte

Auf diese Weise wird die Ausstellung auch zu einem Querschnitt durch die Geschichte der Fotografie. Man meint, die sich wandelnden Techniken zu erkennen, die Farbe, die langsam in die Bilder kriecht. Man sieht aber auch das gleichbleibende Bedürfnis, inmitten einer Gesellschaft, die einem keinen Platz einräumt, gesehen zu werden. 

Die zumeist kleinformatigen Schwarz-Weiß-Fotos erwecken in ihrer Vielzahl einen geradezu wimmeligen Eindruck an den Wänden. Die Aufnahme etwa von einer Person im Hemd – den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Lippen geschminkt, die Hand an die Wange gelegt –, die das Ausstellungshaus auch als Plakat nutzt, ist im Original nur so groß wie ein Passbild.  

So überschaubar die Ausmaße der Fotografien auch sind, lassen sich auf ihnen dennoch künstlerische Entdeckungen machen. Im Kapitel „Transformists“ etwa sind die Flyer vom „Chat Noir“ zu finden, dem ersten Cabaret der Welt. Die 1881 eröffnete Pariser Institution durfte offiziell nicht für seine Shows werben, tat dies heimlich aber dennoch.

Mit wunderbar überspitzten, zum Teil nachkolorierten Aufnahmen, auf denen dieselbe Person – man möchte sagen: derselbe Mann – immer wieder in anderen Aufzügen zu sehen ist: als Flamenco-Tänzerin, Geisha oder als vornehme Jägerin mit Flinte. 

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Im Laufe der Jahrzehnte des Sammelns kristallisierten sich vor Lifshitz’ Augen die verschiedensten thematischen Schwerpunkte heraus. So stieß er immer wieder auf Männer, die in Kriegsgefangenenlagern Kleider anzogen und auf der Bühne tanzten.

Auf Frauen, die sich als Männer verkleiden und einander in sogenannten mock weddings heirateten. Er sah all diese Menschen, die die Fotografie nutzen, um ihre Identität im Geheimen zu verorten. 

Dabei weiß man eigentlich nichts über diese Menschen, auch Lifshitz nicht, schließlich hat er sie in anonymen Fotoalben gefunden. „Die Aufnahmen haben für mich eine Aura des Mysteriösen“, sagt er.

Ihnen haftet aber auch eine Traurigkeit an, da die Alben erst auf dem Flohmarkt gelandet sind, wenn diejenigen, die sie zusammengestellt und für sie posiert haben, bereits tot waren. Zu groß war die Gefahr, die zu ihren Lebzeiten von den Bildern ausging.  

So wohnt den Aufnahmen, bei aller befreienden, zuweilen gar humorvollen Wirkung, zugleich etwas Bedrohliches inne. Das, was auf ihnen zu sehen ist, durfte damals nicht sein. Auch und gerade nicht vor dem Gesetz. Soziale Ächtung wäre da noch die harmloseste Folge einer möglichen „Entdeckung“ gewesen.

Die Tatsache, dass diese Bilder existieren und dass Menschen bereit waren, für sie ihre eigene Existenz aufs Spiel zu setzen, macht sie zu einem Denkmal für Akzeptanz – und für den gewaltigen Mut, den die Fotografierten haben mussten, um schlicht ihren Bedürfnissen entsprechend zu leben. 

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