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Kultur: Ruf mich an! Sieben Literaten lesen aus ihren Telefonbüchern

Fünf junge Autoren lesen aus Telefonbüchern vor, kann es etwas Langweiligeres geben? Dazu stellt man sich noch Freejazz der schlimmsten Sorte vor oder avantgardistische Missklänge.

Fünf junge Autoren lesen aus Telefonbüchern vor, kann es etwas Langweiligeres geben? Dazu stellt man sich noch Freejazz der schlimmsten Sorte vor oder avantgardistische Missklänge. Doch der Saal der Galerie Haus Schwarzenberg in Mitte ist überfüllt, trotz nur wenigen verschickten Einladungen. "Das Zeitalter der Konversationseuphorie" soll verkündet werden, Lesung und Websitepräsentation, oder auf deutsch: Geschichten und Texte zum Telefonieren.

Also gehört natürlich ein Laptop samt Beamer dazu, der den Bildschirm auf eine Leinwand projiziert. An einem Tisch mit zwei DDR-Schreibtischlampen sitzen die Autoren Tanja Dückers, Edda Helmke, Rainer Merkel, Jörg Paulus und David Wagner. Doch bevor sie vorzulesen beginnen, stellt Martin Wieser seine Website vor. Sie ist dem Thema angemessen mit Navigationswerkzeugen und einer Vermittlungsstelle ausgestattet. Jeder Autor sagt zuerst die Telefonnummer an, und man glaubt der Dückers sofort, dass sie es mit Borten hat, die sie sich andauernd an ihre Hosen näht, wieder abtrennt und durch neue ersetzt. Rainer Merkel erzählt über Beatrice, die jetzt in einer Galerie arbeitet. David Wagner über eine Frau Dückelmann, Edda Helmke verbindet die Sorgen einer alleinstehenden Mutter mit dem Yuppie-Milieu, in dem schon mal jemand sushisüchtig aus New York zurückkehrt. Jörg Paulus zitiert die erste Funktelefonnummer des Abends.

Dann geht es die Reihe der Autoren wieder von vorne los. Dückers Bruder, der nur bei jedem 10. Anruf zu erreichen ist. Eine ehemalige Balletttänzerin bei Rainer Merkel, die nur telefoniere. Und bei Edda Helmke taucht eine englisch sprechende Praktikantin auf und eine Galeristin, die sich nackt auf ihrer Harley Davidson fotografieren lässt. Dazu tönen aus den Heizungsrohren geheimnisvolle Lieder, ein Synergieeffekt vom darunterliegenden Café. Begonnen hat das Projekt vor 3 Jahren Jörg Paulus, Jahrgang 61, Philosoph und Literaturwissenschaftler. Als nächstes ließ sich Rainer Merkel von der Idee überzeugen und schrieb mit, genau wie David Wagner. Bei einer Lesung im Podewil saß Thomas Wegmann von der Softmoderne im Publikum und war begeistert. Die Softmoderne ist ein seit 1995 existierendes Festival der Netzliteratur, bei dem alljährlich Projekte, Performances, Workshops und Vorträge rund um die elektronische Literatur stattfinden.

Inzwischen unterstützt nicht nur Wegmann, FU-Literaturwissenschaftler und Netzliteraturexperte, das Telefonbuchprojekt, sondern auch der Berliner Senat. Dadurch ergab sich die Möglichkeit der Netzpräsentation und die Zahlung von Lesungshonoraren für das bis dahin ideelle Vorhaben. Und weitere Autoren stießen zu der Gruppe: Terezia Mora, Tanja Dückers, Maike Wetzel und Edda Helmke vervollständigten die Konversationseuphoriker zu ihrer heutigen Zusammensetzung. Inzwischen hat jeder Mitschreiber etwa zehn Seiten Geschichten um seine Telefonnummern geschrieben. Die Vernetzungen ergeben sich automatisch: schließlich haben die Autoren viele gemeinsame Bekannte und Telefonpartner. Auch Schlagworte kann man suchen und findet dort "Fick- und Gebärmaschinen" genauso wie "Dederonkittel", den "Eierlikörmann", den "Biene-Maja-BH" und "Gehirnwäsche". Immer dann, wenn bei der Lesung Nummern und Personen zusammenhangslos erscheinen und sich Langeweile auszubreiten droht, gibt es lustige Querverbindungen. Die nackte Galeristin auf der Harley Davidson taucht wieder auf. Und die Zuhörer können nachdenken über die vielen Menschen, die durch Adressbücher entfernter Bekannter miteinander verbunden sind, ohne es jemals zu erfahren. www.softmoderne.de/euphorie

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