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Saul Friedländer

© picture-alliance/ dpa

Saul Friedländer zum 90.: Wie es gewesen ist

Saul Friedländer entkam dem Holocaust. In seinen Büchern gab er den Opfern eine Stimme. Nun wird der Historiker 90.

Der Historiker müsse zeigen, „wie es eigentlich gewesen“ sei, lautet die berühmte Maxime Leopold von Rankes. Objektivität, so ist sie zu verstehen, muss Maßstab und Ziel sein. Wie aber kann das undenkbare, jedenfalls die Vorstellungskraft bis an die Grenzen strapazierende Geschehen geschildert werden, „wie es eigentlich gewesen“ ist?

Wie die Verfolgung, Drangsalierung und schließlich Ermordung der Juden, dieses Menschheitsverbrechen, das sich aufspaltet in sechs Millionen einzelne Verbrechen, sechs Millionen Morde?

Saul Friedländer war selbst von diesem Verbrechen betroffen. Er konnte der „Endlösung“ entkommen; seine Familie nicht. Aber er war und bleibt ein Leben lang Teil dieser Geschichte. Er hat sie aus dieser Perspektive geschildert, indem er den Opfern eine Stimme gab. Mit Friedländer setzte eine Personalisierung des Holocaust ein, die auf das individuelle Schicksal der Verfolgten und Ermordeten ausgerichtet ist, wie er es an sich selbst hat erleben müssen.

Das scheint heute selbstverständlich, aber es bedurfte einer ungeheuren Anstengung, um eine solche Sichtweise gegen die etablierte Geschichtsschreibung einzunehmen. In den 1980er Jahren schien sich eine allmählich „Historisierung“ des Nationalsozialismus einzustellen; der Historiker Martin Broszat lieferte das Stichwort. Der NS rückte so fern, dass der Holocaust – wie Friedländer fürchtete – dabei an Bedeutung einzubüßen drohte.

Geschrieben wurde über die Mechanismen des NS-Regimes, geschöpft wurde aus den Quellen der staatlichen Archive. Betroffenen wie Friedländer wurde unterstellt, nicht rational urteilen zu können, weil sie selbst in das Geschehen involviert waren. Diesen Einwand richtete Friedländer zurück an eine deutsche Geschichtswissenschaft, die ihre eigenen biografischen Verstrickungen in die NS-Zeit nicht wahrhaben wollte.

Mit Friedländer setzte ein Umdenken ein, das die Einzelschicksale in ihr Recht setzte. Die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2007 nahm genau darauf Bezug. In der Begründung heißt es, der Börsenverein ehre „den epischen Erzähler der Geschichte der Shoah (…)“.

Die Würde der Ermordeten

Friedländer habe „den zu Asche verbrannten Menschen Klage und Schrei gestattet, Gedächtnis und Namen geschenkt. Er hat den Ermordeten die ihnen geraubte Würde zurückgegeben, deren Anerkennung die Grundlage des Friedens unter den Menschen ist.“ 

Die Laufbahn des Historikers war Friedländer wahrlich nicht vorgezeichnet. Geboren 1932 als Paul in eine deutsch-jüdische Familie in Prag – er hat im Alter selbst über Kafka geschrieben –, konnte seine Familie nach der deutschen Besetzung der Tschechoslowakei nach Frankreich fliehen.

Mit dem dortigen Einsetzen der Deportationen brachten ihn seine Eltern in einem katholischen Internat im Süden des Landes unter, wo er eine neue Identität annehmen und sich taufen lassen musste. Er überlebte; seine Eltern wurden in Auschwitz ermordet.

Ab 1948 in Israel

Nach dem Krieg beschäftigte er sich mit Zionismus und Kommunismus und ging 1948 unmittelbar nach der Gründung des Staates nach Israel. Aus „Paul“ wurde „Saul“; hebräisch musste er erst erlernen. Drei Jahre Militärdienst folgten ab 1951, danach das Studium in Paris und Genf mit der Dissertation in Geschichte – und der Entscheidung für eine akademische Laufbahn.

Ab 1969 war Friedländer Professor erst in Jerusalem, dann in Tel Aviv, seit 1988 auch in Los Angeles, dazu kamen Gastprofessuren, so in Jena. Zwischen 1998 und 2006 erschien sein Hauptwerk, „Das Dritte Reich und die Juden“, in zwei umfangreichen Bänden und bot mit der Fülle an Quellen individueller Schicksale einen neuen, emotionalen Zugang zu dem unfassbaren Geschehen des Holocaust.

Über den Judenhass spricht Friedländer als einem „Erlösungsantisemitismus“ und hebt die quasi-religiöse Dimension hervor, gegen alle funktionalistischen Erklärungsansätze. Sein Blick richtet sich auf ganz Europa unter der deutschen Besetzung – und den Antisemitismus und die Kollaboration auch dort, in Frankreich, Ungarn und selbst den Niederlanden.

Wenn heute die zentrale Rolle und Bedeutung der Judenverfolgung für das NS-Regime unstrittig ist, so ist dies – so der Historikerkollege Peter Steinbach – „keine kollektive Leistung, die hinter dieser Art der Vergangenheitsbewältigung steht, sondern es ist die Leistung Einzelner, die sich zugemutet haben, sich querzustellen zu der gesamten Gesellschaft, und von dieser Gesellschaft Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit zu verlangen“.

Friedländer hat diese Vergangenheit unausweichlich gemacht, er hat verhindert, dass die millionenfachen Einzelschicksale in der Abstraktion der politischen Ereignisgeschichte verblassen. Heute feiert Saul Friedländer seinen 90. Geburtstag.

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