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Tess Gunty

© Kiepenheuer&Witsch

Schriftstellerin Tess Gunty: „Strukturelle Gewalt bedingt zwischenmenschliche Gewalt“

Für ihren Debütroman „Der Kaninchenstall“ wird Tess Gunty weltweit gefeiert. Hier erzählt sie, was sie über toxische Beziehungen denkt - und warum sie an soziale Gerechtigkeit glaubt.

Von Ute Büsing

Sie glaubt an die „essenzielle Rolle der Literatur“ und daran, „alle literarische Aufmerksamkeit auf Benachteiligte zu richten“. Das sagte die amerikanische Schriftstellerin Tess Gunty, als ihr im letzten Jahr der National Book Award für ihr Debüt „Der Kaninchenstall“ verliehen wurde.

Tatsächlich leiht die 30-jährige Autorin in ihrem gefeierten Roman Ausgeschlossenen und Ausgestoßenen ganz eigene poetische Stimmen. Im fiktiven Ort Vacca Vale im sogenannten „Rust Belt“ der USA, wo einst Autos produziert wurden, bringt sie die Bewohner eines Apartment-Komplexes miteinander in Berührung. Weil sich dort und im verödeten Umland so viele dieser Felltiere tummeln, wird das Gebäude despektierlich „Der Kaninchenstall“ genannt.

„Ich bin selbst in so einer Stadt aufgewachsen, mich hat nicht die glorreiche industrielle Vergangenheit interessiert, sondern, wie alle amerikanischen Krisen sich dort nach dem Niedergang ballen: Drogenmissbrauch, Obdachlosigkeit, Verwahrlosung. Strukturelle Gewalt bedingt zwischenmenschliche Gewalt“, sagt Tess Gunty im Zoom-Gespräch aus Los Angeles, wo sie inzwischen lebt. Entstanden ist ihr Buch allerdings noch in Brooklyn, in siebenjähriger Arbeit während und nach ihrem Literatur-Studium.

Hauptfigur des „Kaninchenstalls“ ist die kontaktscheue 18-jährige Blandine, die sich der mittelalterlichen Mystikerin Hildegard von Bingen verschrieben hat. Sie kämpft mit Vodoo-Ritualen gegen ein Bauvorhaben, das den einzigen Park in Vacca Vale zerstören würde und ist beseelt von der Vorstellung, ihren Körper zu verlassen. „Ich habe diese ausgezehrte schlaflose junge Frau mit den weißen Haaren in übergroßen Klamotten vor mir gesehen, wie sie neben einer Tankstelle an einem blauen Slushy nuckelt“, erzählt Gunty.

Assoziationen und Träume als Mittel der Verdichtung

„Assoziative Traum-Logik“ ist für sie eine Methode der literarischen Verdichtung. Blandine sei nicht wirklich religiös, sie suche aber „nach gravierenden Missbrauchserfahrungen wie ein im Käfig eingesperrtes Tier nach einem radikalen Ausweg. Ihre Befreiung findet im Kopf statt. Über andere Mittel verfügt sie nicht.“

Blandine wohnt mit drei Jungs in einer Wohngemeinschaft im „Kaninchenstall“, die ebenso wie sie gerade erst aus Fürsorgefamilien in die Selbständigkeit entlassen wurden. Mit laufenden Tieropfern versuchen die jungen Männer, Blandines Aufmerksamkeit zu gewinnen.

„Für heranwachsende Männer gab es in konservativen Gemeinden bis vor kurzem nur sehr eingeschränkte emotionale Optionen und Rollenbilder“, sagt Gunty. „Die Jungs und auch die erwachsenen Männer in meinem Roman müssen mit dem gefühlten Verlust von Kontrolle und Macht umgehen. Aufgrund ihres begrenzten emotionalen Repertoires flüchten sie sich in althergebrachtes Dominanzverhalten.“

Aus romantischer Liebe wird emotionaler Missbrauch

Blandine ist in ihren Musiklehrer verknallt, der sich scheinbar uneigennützig um ihr Fortkommen kümmert und ihr die Hauptrolle in einem Schultheaterstück gibt. Was als zarte romantische Liebe zu beginnen scheint, nimmt immer mehr die Gestalt eines emotionalen Übergriffs an.

Das Alters- und Machtgefälle zementiert die Ungleichheit. „Ich habe die ersten Entwürfe des Romans geschrieben, ein Jahr, bevor die MeToo-Bewegung explodierte. Dann wurde klar, wie viele Ausprägungen jenseits des krassen Harvey-Weinstein-Falles sexueller Machtmissbrauch haben kann“, erzählt Gunty.

„In meiner Vorstellung hat Blandine in ihrer Vergangenheit traumatischen sexuellen Missbrauch erlebt. Darüber wollte ich aber nicht schreiben, weil es zu sehr das Klischee des ‚abgrundtief Bösen‘ getroffen hätte. Interessanter fand ich auszuleuchten, warum Blandine anfangs glaubt, in einem einvernehmlichen Verhältnis mit ihrem Lehrer zu stehen, um sich dann umso schmerzlicher bewusst zu werden, wie sehr sie sich getäuscht hat.“ Der Musiklehrer glaubt weiterhin, ein verständnisvoller Mann zu sein. Zum Arschloch macht ihn Gunty aber nicht, ihr Roman verzichtet auf eine plumpe Täter-Opfer-Dichotomie.  

Die sterbende Stadt Vacca Vale im Rostgürtel des Mittleren Westens steht stellvertretend für den Zerfall vieler einst prosperierender Innenstädte und dessen Konsequenzen: Aggression und Depression. Behutsam führt Gunty ihr Personal durch das von allen Hoffnungen entleerte Kaninchenstall-Viertel, in dem Menschen und Tiere zu Opfern werden.

Eine nahegehende Figur ist Joan, die für eine Agentur namens „Restinpeace.com“ Online-Nachrufe bearbeitet. Mit ihr beginnt der Roman, mit ihr begann auch Guntys Schreibprojekt. „Joan setzt den Ton für den gesamten Roman. Sie fühlt sich unsichtbar, ist aber gar nicht mal unglücklich damit. Sie will nur durchs Leben kommen.“ Joan kommt in Kontakt mit Moses, dem missratenen Sohn von Elsie Blitz, einer einstmals erfolgreichen Hollywood-Kinderdarstellerin. Mit einem Arsenal leuchtender Neonfarbe zur Attacke auf Feinde ausgerüstet, spukt Moses als Rächer durch Vacca Vale.

Mutterschaft ist ein Fetisch der randständiger Gesellschaft

Und dann ist da noch Hope, die schlicht nicht mit dem durchdringenden Blick ihres Neugeborenen umgehen kann. Bei ihr stimmen zwar die Verhältnisse: ihr Mann und sie lieben sich inniglich, aber mit Mutterschaft ist die junge Frau überfordert.

Auch das ein Phänomen in einer auf die Erfüllung in der Mutterschaft und omnipräsente Mamablogs gepolten christlich-randständigen Gesellschaft, in der junge Mütter alleingelassen mit ihren Ängsten ringen. „Ich wollte diesen Ort und den Roman mit einer nahezu mythologischen Qualität aufladen. Ich habe die Figuren wie unter einem Brennglas so ausgeformt, dass sie fast aus einer anderen Welt zu kommen scheinen und doch stehen sie für die brüchige, allseits verunsicherte Gegenwart.“

Tess Gunty ist in Indiana aufgewachsen, in eher tristen, aber gesicherten Verhältnissen. Ihre Mutter, eine Kunstlehrerin, hat sie, wie Gunty sagt, ebenso früh gefördert und inspiriert wie ihr Vater, der ihre ersten gezeichneten kleinen Geschichten in Worten zu Papier brachte. Jetzt hat ihr Bruder Nicholas Gunty den Roman illustriert. Als sie in New York studierte, war Jonathan Safran Foer einer ihrer Mentoren, ebenso wie ihr späterer Lektor beim legendären Verlagshaus A. Knopf, John Freeman.

Sie sei „glücklich“ über all die frühe Unterstützung, sagt Gunty. Nun wolle sie etwas zurückgeben an all jene, die weniger priviligiert sind: „Ich glaube an soziale Gerechtigkeit!“ „Der Kaninchenstall“ ist ein eindrucksvolles, mit ironischen Seitenhieben gespicktes Gesellschaftsporträt. Längst arbeitet die Schriftstellerin an ihrem zweiten Roman. Der Arbeitstitel lautet: „Honey Den“ – „Bienenstock“.

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