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Jamel Brinkley bohrt sich mit seinen Kurzgeschichten tief in die Straßen Brooklyns.

© Arash Saedinia

Kurzgeschichten von Jamel Brinkley: Sprache wie ein stiller Donner

Der literarische Shootingstar Jamel Brinkley erzählt in seinem Kurzgeschichtenband „Unverschämtes Glück“ von Männlichkeit und schwarzer Identität.

In „J'Ouvert 1996“, der schönsten Geschichte dieses Buches, begleiten wir einen Teenager, für den eine kleine Welt zusammengebrochen ist: Seine Mutter hat ihm den Friseurbesuch verweigert und ihm selbst die Haare geschnitten, es sieht fürchterlich aus. Dabei wollte er sich doch stadtfein machen für die Parade am Abend und zum ersten Mal überhaupt die Atmosphäre eines Barbershops erfahren; jetzt ist er unzufrieden, irrt mit seinem kleinen Bruder und einer Freundin durch die Gegend, trinkt Bier, statt nach Hause zu gehen, wo die Mutter wartet. Er bohrt sich immer weiter rein in die Straßen Brooklyns.

„Wir gehen auf Abenteuer“, sagt er zu den beiden Kindern. Sie landen schließlich in einem gänzlich anderen Umzug, die Steel Drums pulsieren, eine entfesselte Meute wirft mit Farbpulver. Es ist eine Szenerie, die gleichzeitig attraktiv und diffus bedrohlich wirkt, am Ende ist er erleichtert, sie ohne Schaden verlassen zu haben. Zwischendurch immer die Rückblende: Der Junge denkt an seinen Vater. Der ist schon lange nicht mehr Teil dieser Familie; der Junge imaginiert ihn auf genau solchen Umzügen wie jenem, den er nun besucht.

Zwischen Prekariat und Arbeiterklasse

Als Jamel Brinkleys Short-Story-Sammlung „Unverschämtes Glück“ im vergangenen Sommer in den USA erschien, jubelierten die amerikanischen Medien. Von einem „stillen Donner, der noch lange nach dem Lesen nachhallen würde“, sprach der „San Francisco Chronicle“, die Radioprogramme des „NPR“ urteilten, Jamel Brinkley würde dem Leser in seinen neun Geschichten „eine ganze Welt geben“. In der Tat ist dem jungen Amerikaner mit seinem Debüt ein Kurzgeschichtenband gelungen, der Außergewöhnliches leistet: In souveräner und bunter Sprachmelodie, aber ohne jeden verbalen Tand, lotst er den Leser durch die Biografien seiner Protagonisten. Gemein ist ihnen allen die Hautfarbe. Gemein ist ihnen aber auch das Aufwachsen in einem Umfeld, in dem Hoffnung und Verzweiflung nicht allzu weit entfernt voneinander sind. Nicht alle, aber viele von ihnen befinden sich an der Schnittstelle von Prekariat und Working Class, wo das Leben unter beengten Verhältnissen stattfindet: „Da, wo wir wohnten, war es egal, wie ein Zimmer hieß“, heißt es in „J'Ouvert 1996“.

Jamel Brinkley zeigt sich als ebenso versierter wie empathischer Beobachter; auch bei all den Kleinkriminellen und Betrügern, mit denen man sich eigentlich nicht gemein machen möchte, sucht er nach dem wahren Kern, gibt ihnen alle Zeit der Welt, um ihr eigenes Verhalten zu reflektieren, nach Bezugspunkten in ihren Biografien zu suchen. An anderer Stelle täuscht er seine Geschichten eher an, um dann etwas gänzlich anderes zu erzählen.

Suche nach afroamerikanischer Identität

Was Brinkley dabei neben der Suche nach so etwas wie einer gemeinsamen Identität schwarzer Amerikaner am meisten umtreibt, ist die Frage danach, wie sich diese Identität mit Männlichkeit kreuzt. Da sind zum Beispiel zwei Jungs, die anstatt zu irgendwelchen Feten in der Nachbarschaft lieber auf College-Partys gehen, weil man sich auf diesen Parties an die Girls heranpirschen kann, ohne dass Gefahren drohen. Ein anderer Junge schläft mit der Freundin des Bekannten, den er so sehr anhimmelt – um gleichzeitig davon abgestoßen zu sein, wie dieser sich durch das ihm selbst so verschlossene Themengebiet Sexualität bewegt wie ein Fisch im klarsten Wasser. Und Curtis heiratet die Frau seines besten Freundes Marvin, den er einst verstieß, weil genau diese Frau, Marvins erste richtige Freundin, sich seinem Empfinden nach zwischen die beiden drängte.

Die beinahe ausschließlich männlichen Protagonisten seiner Geschichten versuchen also, tradierten Geschlechterrollen zu folgen. Oft genug werden sie dabei in ihre Schranken verwiesen, nicht nur dadurch, dass sie scheitern. Sondern auch von Frauen, die dann doch stärker sind, als es zunächst den Anschein hat. Jamel Brinkley tritt auch die Beweisführung an, dass die Gesellschaft bei allen strukturellen Problemen eine fluide ist. Das ist nicht nur berührend, sondern auch hoffnungsvoll und manchmal sogar amüsant, vor allem in der letzten Geschichte: In „Clifton's Place“ entführt der Autor den Leser in eine kleine Kellerkneipe.

Krankenhäuser werden zu Luxus-Wohnanlagen

Was Dekaden lang ein Rückzugsort der Einheimischen war, hat sich mit den Jahren verändert. Die weißen Kids entdecken den urigen Laden, manche wohnen am Eck, etwa in dem früheren Krankenhaus, das zu einem Luxus-Wohnanwesen umgewandelt wurde. Sadie, die ehemalige Wirtin, kriegt von all dem nicht mehr viel mit, sie ist dement. Es ist Ellis zu verdanken, dem Stammgast mit den immer etwas zu bunten Krawatten, der gerne am Tresen sitzt und die anderen Gäste zeichnet, dass sie trotzdem noch einen letzten schönen Abend dort hat. Dass es in dieser eigenartigen Beziehung kein Gleichgewicht mehr geben kann, spielt keine allzu große Rolle.

„Wir alle sollten geliebt werden, dachte er erneut. Komme was wolle, und sei es für eine Nacht“, schreibt Jamel Brinkley. Das Glück, dass dem Leser und den Leserinnen dieses Buches über weite Strecken nur unzureichend gewährt wird, unverschämt hin, verschämt her, in dieser Geschichte steht es plötzlich greifbar im Raum, bewegt sich über die Dielen eines alten Tanzbodens zum Groove der Jukebox.
Jamel Brinkley: Unverschämtes Glück. Roman. Aus dem Englischen von Uda Strätling. Verlag Kein und Aber, Zürich 2019. 336 Seiten, 22 €.

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