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Cootie (Jharrel Jerome) in „I’m a Virgo“ von Boots Riley.

© Pete Lee/Prime Video/Pete Lee/Prime Video

Streamingserie „I’m a Virgo“ : Ein Manifest des Afrosurrealismus

Der Musiker und Regisseur Boots Riley bezeichnet sich als Marxisten. Seine Miniserie „I’m a Virgo“ handelt von einem vier Meter großen schwarzen Jugendlichen.

Von Andreas Busche

Als wäre das Leben als afroamerikanischer Teenager im kalifornischen Oakland (immerhin Gründungsort der Black Panther Party) nicht schon schwierig genug, wird Cootie buchstäblich als Riesenbaby geboren. Für biologische Fragen interessiert sich der amerikanische Regisseur Boots Riley in der Amazon-Miniserie „I’m a Virgo“ aber weniger als für die gesellschaftlichen Konsequenzen dieses Wunders. Warum gibt es keinen schwarzen Superhelden, der sich um die Probleme der eigenen Leute in den zurückgelassenen, verarmten Nachbarschaften der amerikanischen Großstädte kümmert?

Amerika hat Angst vor einem schwarzen Teenager

Als Jugendlicher passt Cootie kaum noch in das Häuschen in seinem schwarzen Viertel. Sein Vater Martisse (Mike Epps) und seine Tante Lafrancine (Carmen Ejogo) müssen den Teenager mit Wachstumsschüben verstecken, denn: „Du bist ein vier Meter großer schwarzer Mann. Sie haben Angst vor dir!“

Boots Riley wurde in den frühen 2000er Jahren bekannt als Mastermind der marxistischen Comedy/Hip-Hop-Gruppe The Coup, sein Regiedebüt „Sorry to Bother You“ prägte 2018 eine Art Afrosurrealismus mit einem Pastiche aus Kapitalismuskritik, Schwarzem Bewusstsein und absurder Fantasy-Satire. Wie eine Collage ist auch „I’m a Virgo“ strukturiert: Werbung für eine Fastfood-Kette, „Simspons“-ähnliche Nonsens-Cartoons, Agit-Prop aus den Nachrichten und Talkshow-Bits mit dem Tech-Milliardär Jay Whittle (Walton Goggins), der sich als Superheld The Hero neu erfindet, prasseln auf Cootie in seinem übergroßen Kinderzimmer ein.

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Bis ihn eine Gruppe von Teenagern, angeführt von der queeren Nachbarschaftsaktivistin Jones (Kara Young), aus seinem Versteck befreit und mit auf ihre nächtlichen Cruisingtouren durch Oakland und seine Clubs nimmt. Das „Twamp Monster“ wird zu urbanen Legende.

„Jede Kunst ist Propaganda“, das Motto des Law-and-Order-Philanthropen Whittle gilt auch für Riley, dessen Aktivismus seinem Witz und Sinn für Absurdität noch nie im Weg stand. „I’m a Virgo“ ist in der immer stromlinienförmigeren Serienlandschaft, in der für erzählerische Experimente kaum noch Raum ist, inzwischen eine Seltenheit.

Anders als in seinem hochgradig bizarren Regiedebüt, ist es Riley diesmal aber ernster mit seinen Figuren. Cootie durchlebt gleichzeitig das Coming-of-Age eines Teenagers – und des lokalen Superhelden. Er muss sich erst einmal in der Welt zurechtfinden und schon lernen, dass er in ihr trotz seines Celebrity-Status auch feindselig wahrgenommen wird.

Dabei hilft ihm einerseits Flora (Olivia Washington, die Tochter von Denzel Washington), die in dem Burgerladen arbeitet, der für Cootie das Sinnbild seiner neuen Freiheit darstellt – in Rileys Amerika-Panorama aber eher als Sinnbild kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse fungiert. „I’m a Virgo“ wird gelegentlich grundsätzlich in seinem Welt- und Feindbild.

Anführer einer neuen Bürgerrechtsbewegung

Oakland war schon in seiner Musikerkarriere so etwas wie eine Festung der Einsamkeit, die permanent bedroht ist: vom weißen Amerika, vom Kapital, vom maroden Gesundheitssystem – ein Gegenentwurf zu San Francisco und dem Silicon Valley am anderen Ufer der Bay Area.

Der Größenunterschied zwischen Cootie (Jharrel Jerome) und Flora (Olivia Washington) bringt auch praktische Probleme mit sich.

© Courtesy of Prime Video/Courtesy of Prime Video

„I’m a Virgo“ ist bevölkert von seltsamsten Gestalten. Neben Whittle aka The Hero, der in einem düsenangetriebenen Superheldenkostüm für Recht und Ordnung sorgt, haben auch ein obskurer Riesenkult und ein windiger Sportagent Cootie als eine Art – und sei es nur monetären – Heilsbringer auserkoren. Jones ist die einzige seiner neuen Freunde, die das revolutionäre Potenzial von Cootie erkennt: Ein vier Meter großer schwarzer Jugendlicher taugt auch zum Anführer einer neuen Bürgerrechtsbewegung.

Gleichzeitig bricht Riley den Manifest-Charakter seine Geschichte immer wieder mit surrealen Vignetten und der Coming-of-Age-Geschichte seines Helden auf. Diese Gegensätze führen in der vierten Episode zu einer etwas kruden Parallelmontage, die sich um die Herausforderung dreht, Sex mit einem vier Meter großen Jungen zu haben. Aber das Krude und Improvisierte gehören gewissermaßen zu Rileys Modus Operandi.

Der Rhythmus der sieben Episoden folgt keiner erzählerischen Ökonomie, die Tricktechnik basiert auch nicht auf digitalen Spezialeffekten, sondern auf dem Einsatz von mechanischen Puppen, Kamera-Effekten und dem Spiel mit optischen Perspektiven. Boots Rileys Superheld bleibt fest in der materiellen Realität verankert.

Die staunenden Augen des großartigen Jharrel Jerome (aus Ava DuVernays Miniserie „When They See Us“) sind in gewisser Weise auch unsere, durch die wir dieses durchaus als real erkennbare Oakland zwischen sozialer Verdrängung, seinem ausgeprägten Gemeinschaftssinn und magischem Realismus sehen. Cootie will eigentlich nur spielen. Aber so leicht macht Amerika es einem schwarzen Teenager nicht.

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