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The 1975 mit Frontmann Matty Healy bei einem Konzert in den USA.

© IMAGO/Imagespace

The 1975 in Berlin: Wandelbares Konzert vor der Sitcom-Kulisse

In der Mercedes Benz Arena zelebriert die britische Band The 1975 ihren Song-Katalog - und wird im Laufe des Abends immer besser.

Und dann ist Matty Healy plötzlich ganz alleine auf weiter Flur. Der Rest seiner Band hat sich zurückgezogen, der Sänger sitzt da mit seiner Akustikgitarre und spielt das kleine „Be My Mistake“. Wobei: Ganz alleine ist Healy nicht. Hinter ihm läuft ein Fernseher, und während der 34-Jährige mit brüchiger Stimme die alte Rockstar-Schnurre der einsamen Nächte in Hotelzimmern erzählt, strömen aus der Glotze News zum Gazastreifen, dem Krieg in der Ukraine, dem Klimawandel.

Genau verständlich ist das, was da über die Mattscheibe flimmert, nicht; eher sind es Schlagworte. Vielleicht ist die Botschaft folgende: Wir sind zwar eine Popband, die die größten Hallen der Welt bespielt. Aber hey, wir sind mehr als nur das.

Wo 2013 auf dem Debüt von The 1975 noch recht simple Popsongs zu hören waren, die oft wie Easy-Listening-Versionen US-amerikanischer Emorock-Stücke klangen, wurden die folgenden Alben komplexer. Auch deren Titel schienen ambitionierter, lauteten „I Like It When You Sleep, For You Are So Beautiful Yet So Unaware Of It“, „A Brief Inquiry Into Online Relationships“ oder zuletzt „Being Funny In A Foreign Language“.

Früher gab Healy die Rampensau

Das wirkte bisweilen so, als hätte sich das jemand ausgedacht. Die Aufgabenstellung: Wie genau muss eine Band 2024 klingen? Welche Kriterien muss sie erfüllen, damit über sie gesprochen wird? Bekommt man vielleicht hin, dass ihre Songs sowohl in der Fast-Fashion-Filiale in der Fußgängerzone von Osnabrück als auch im iPhone der lässigen Agenturmenschen in Berlin-Mitte laufen?

Im Falle von The 1975 funktioniert das, vielleicht auch, weil Matty Healy quasi vom Fach ist. Ein Schauspielerkind, Mutter Denise Welch kennt man aus „Coronation Street“, Vater Tim Healy spielte unter anderem in der Serie „Auf Wiedersehen, Pet“. Sohn Matty gibt die Rampensau, die manchmal erratisch agiert, aber oft schlichtweg das tut, was ihr gerade in den Sinn kommt: So küsste er während eines Konzerts in Malaysia seine Bandkollegen und kritisierte die Homophobie der dortigen Regierung; Das Konzert wurde daraufhin abgebrochen. Gleichzeitig redet er bisweilen so einen Blödsinn, dass der „New Yorker“ für ihn einen neuen Begriff erfand: „post-woke Rockstar“.

Wie ein abgewohntes Wohnzimmer

In Berlin ist von all dem nicht viel mitzubekommen. Healy küsst niemanden, wendet sich nur ein-, zweimal direkt ans Publikum. Zwar führt aus der Kulisse so eine Art Showtreppe in die Höhe, aber Healy benutzt sie nicht.

Stattdessen wendet sich das Konzert zunächst eher nach innen. Die Bühne ist wie das latent abgewohnte Wohnzimmer einer amerikanischen Sitcom gestaltet, als Beleuchtungsmodule dienen Stehlampen und Fernseher, an denen die Mitglieder der Band mal selber herumfummeln und die mal wie eine herkömmliche Lichtanlage gesteuert werden. Wenn Healy da herumstromert, mal die Zigarette in der Hand, mal einen Drink, wirkt das gleichzeitig desperat und nahbar.

Vor diesem Bild spielen The 1975 in der ersten Hälfte des Abends vor allem die Songs ihres aktuellen Albums. Ein angenehmer Flow aus Midtempo-Pop ist das; im Prinzip: Coldplay trifft Hall & Oates, an Letzterem ist Session-Saxofonist John Waugh nicht ganz unschuldig.

Das Publikum in der nicht ausverkauften Halle reagiert freundlich, aber keineswegs euphorisch; den Background-Musiker:innen ist es ebenso zugetan wie der Band. Nach einer guten Stunde räumt eine Schar von Arbeitern in weißen Kitteln die Möbel zur Seite. Healy verschwindet kurz – er klettert dazu in einen der zahlreichen Fernseher. Nach ein paar Minuten kommt er wieder, das Polo der ersten Hälfte hat er gegen Hemd und Krawatte getauscht. Jetzt spielt sich die Band durch ihren Katalog; auch das Publikum ist erkennbar auf Betriebstemperatur.

Die drei größten Hits entlassen es in die Nacht: Das pulsierende, schwer autobiografische „Love It If We Made It“, die desperat-klebrige Sehnsuchtsnummer „Sex“ und das wortreiche „Give Yourself A Try“ zeigen The 1975 als richtige Rockband. Das klingt ganz hervorragend – und völlig anders als der Beginn. Es ist ein kleines Wunder und vielleicht auch das Erfolgsrezept, dass all diese Teile so nahtlos ineinandergreifen.

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