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Vicky (Sally Dramé) sammelt Gerüche in Einmachgläsern. Ohne es zu ahnen, ist sie dem Geheimnis des Lebens auf der Spur.

© Mubi

„The Five Devils“ im Kino: Ein Kind auf Zeitreise

Léa Mysius gehört zu den aufregenden Stimmen im jungen französischen Kino. Ihr zweiter Film verbindet auf eigenwilligste Weise Coming-of-Age- und Fantasy-Elemente.

Von Andreas Busche

Das Kino ist, bis auf wenige Ausnahmen in der Filmgeschichte wie John Waters’ Odorama-System, keine olfaktorische Kunstform. Als Erinnerungsmedium spricht es andere Sinne an, die das Gefühl von Verlust oder Nostalgie konservieren. Das Kino kann Gerüche nicht einfangen wie das Licht oder abrufen wie ein Geräusch. Auch darum ist der Geruch das perfekte Medium für die französische Regisseurin Léa Mysius, deren Bilder so schwer zu fassen sind, als könnten sie sich von einem Aggregatszustand zum nächsten bewegen und dabei nichts außer einer zarten Duftnote hinterlassen.

Geruchsgedächtnis in Gläsern

Mysius’ zweiter Spielfilm „The Five Devils“, benannt nach dem Bergmassiv in den französischen Alpen, in dessen Sichtweite die achtjährige Vicky (Sally Dramé) mit ihren Eltern lebt, besitzt ebenfalls die seltene Qualität, seine Zustände zu wechseln. Und Vicky hat das Problem, wie sich Gerüche bewahren lassen, mit unbestechlich-kindlicher Logik gelöst.

Sie sammelt zum Beispiel die Creme, mit der Mutter Joanne (Adèle Exarchopoulos) ihre Haut vor dem Schwimmen im Eiswasser zum Schutz einfettet, in einem Einmachglas, das sie sorgfältig beschriftet. Ihre Gläsersammlung fungiert gleichzeitig als Geruchsgedächtnis und Erinnerungsarchiv für das olfaktorisch hochsensible Mädchen.

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Schon in ihrem Debütfilm „Ava“ von 2017 spielte Mysius mit den Sinnen ihrer jungen Protagonistin. Die 13-jährige Ava erhält im Sommerurlaub mit ihrer alleinerziehenden Mutter die Diagnose, dass sie langsam erblindet. Ihr schwindendes Augenlicht versucht sie damit zu kompensieren, dass sie ihre verbleibenden Sinne umso mehr schärft. Eine schönere Metapher für die Reizüberflutung des Coming-of-Age (auch so ein Übergangsritus von einem „Zustand“ in den nächsten) hat es im jüngeren Kino kaum gegeben.

In „The Five Devils“ sind Gerüche aber mehr als ein Gedächtnis und ein untrügliches Identifikationsmerkmal, das Vicky mit – für eine Achtjährige – gerade forensischer Systematik organisiert. Sie dienen auch als Transmitter, um in die Vergangenheit zu reisen. Das erste Mal lernt Vicky dies, als sie hinter dem Schulgebäude am Glas mit den Geruchsspuren ihrer Tante Julia (Swala Emati) schnuppert, die gerade überraschend vor der Wohnung ihres Bruders aufgetaucht ist.

Eine Zeit vor Vickys Geburt

Die junge Frau, die sich längere Zeit in psychiatrischer Behandlung befunden hat, fördert Verwerfungen in der Ehe von Joanna und Jimmy (Moustapha Mbengue) zutage; ihre Anwesenheit verändert die Stimmung im Haushalt. Vicky, mit mehr als nur einer feinen Sensorik für Gerüche ausgestattet, wittert in der Tante eine Gefahr für ihre kleine Familie, vor allem aber – in der Logik von Zeitreise-Tropen wie aus „Zurück in die Zukunft“ – eine Bedrohung ihrer eigenen Existenz.

Denn Joanna, Julia und Jimmy verbindet, gemeinsam mit Joannas Freundin und Arbeitskollegin Nadine (Daphné Patakia), deren Gesicht nach einer Brandverletzung entstellt ist, eine gemeinsame Vergangenheit; aus einer Zeit vor Vickys Geburt.

Die 1989 geborene Léa Mysius gehört zu einer neuen, aufregenden Generation von Regisseurinnen im französischen Kino, die die filmische Sprache, aber auch den Blick auf ihre jungen Figuren mit sanfter Radikalität umdeutet. Zusammen mit ihrer Kollegin Céline Sciamma („Porträt einer jungen Frau in Flammen“) hat sie auch am Drehbuch für Jacques Audiards Generationenporträt „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ gearbeitet.

Die französische Regisseurin Léa Mysius feierte mit ihren beiden ersten Filmen ihre Premiere in Cannes.

© Paul Guilhaume

Diese Verbindung wird in „The Five Devils“ aus verschiedensten Gründen sinnfällig: Auch Sciammas jüngster Film  „Petite Maman“ handelt von einem kleinen Mädchen, das im Wald das kindliche Alter Ego ihrer Mutter als gleichaltrige Spielgefährtin entdeckt.

Von der Ratio zur Magie

Metaphysisch ist das Kino Léa Mysius deswegen noch lange nicht, sondern im Gegenteil tief in einem Naturalismus verankert – auch wenn in ihrem Debütfilm Ava am Atlantikstrand einmal im spielerischen Re-Enactment eines tribalistischen Rituals auf Beutezug geht. Genau an diesen Übergängen von Bewusstseinszuständen, und von der Ratio zur Magie, wird auch „The Five Devils“ interessant.

Das Drehbuch von Mysius und ihrem Ko-Autor Paul Guilhaume hinterfragt seine Prämisse nicht, weil das fantastische Motiv (nicht nur für ein Kind) elementare Fragen aufwirft. „Hast du mich schon vor meiner Geburt lieb gehabt?“, will Vicky von ihrer Mutter wissen, als sie langsam versteht, dass Bonny Tylers „Total Eclipse of the Heart“ für Joanna und Julia mehr bedeutet als bloß eine alkoholisierte Karaoke-Nummer.

Vicky sammelt mit ernster Miene Gerüche von Menschen (und Tieren), weil sie dem Geheimnis des Lebens, auch ihres eigenen, auf der Spur ist. Julia stellt darin keine Bedrohung dar. Sie ist, im Gegenteil, auf emotional komplizierte Weise der Grund, dass Vicky überhaupt existiert. Die Rolle, die der Achtjährigen dabei zukommt, fällt zugleich in das Genre des Coming-of-Age wie der Science Fiction.

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