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Wladimir Wyssozki bei einem Konzert im Jahr 1979.

© IMAGO/ITAR-TASS/Sergei Metelitsa

Ukrainisches Kriegstagebuch (154): Was soll mit dem Wyssozki-Denkmal in Charkiw geschehen? 

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

21.7.2023
In dem YouTube-Video, das ich mir gestern Abend angesehen habe, stellte ein britischer DJ und Labelbetreiber seine riesige Plattensammlung ausführlich vor. Auf die Frage, wo seine Faszination für die Musik herkommt, meinte er, bereits als Kind von der Schallplatte als Medium fasziniert gewesen zu sein, denn seine Eltern waren Plattensammler. An dieser Stelle bin ich neidisch geworden – meine Eltern waren nicht besonders musikaffin und hatten gar keine Platten. Was für ein Glück, dass mein Opa mütterlicherseits ein leidenschaftlicher Musikfan war!

In unserer Dreizimmerwohnung in Charkiw, wo wir zu fünft lebten, spielte er für uns über seine fette Stereoanlage regelmäßig Musik ab. Meine Mutter und meine Großmutter haben dagegen lebhaft protestiert, die Lautstärke trieb sie in den Wahnsinn. Auch mit der Songauswahl waren sie nicht einverstanden.

Mein Opa bevorzugte Unterhaltungsmusik aus dem Westen wie Tom Jones, Dschinghis Khan oder Boney M., während mein Vater die sowjetische Liedermacherszene schätzte. Doch bei einem Sänger waren sich die Männer unserer Familie einig: bei Wladimir Wyssozki.

Nach einer langen Pause musste ich kürzlich wieder an Wyssozki denken, da sein Name plötzlich in meinem Facebook-Feed auftauchte. So erfuhr ich von einem neuen Charkiwer Skandal, im Netz kursiert seit einer Woche ein Aufruf zum Abriss des Wyssozki-Denkmals.

Echt, ein Wyssozki-Denkmal in meiner Heimatstadt und ich weiß nichts davon? Eine schnelle Online-Recherche ergab, dass es bereits seit 2013 existiert und zwar in unmittelbarer Nähe vom Sportpalast. Bei der feierlichen Eröffnung erklärte der umstrittene Bürgermeister in seiner Rede, dass das Denkmal auf Wunsch der Bürger*innen Charkiws errichtet wurde, die 1978 das Konzert von Wyssozki hier besucht hatten.

Wenn ich meinen deutschen Freunden erklären müsste, wer Wyssozki war, würde ich sageb, er sei für die Sowjetunion der 1970er das gewesen, was Danger Dan für Deutschland im Jahr 2023 ist. Wenn es unter den sowjetischen Liedermachern einen Superstar gegeben hat, dann war er das.

Und doch ist Wyssozki viel mehr gewesen als nur ein Unterhalter, der mit seiner rauen Stimme und Akustikgitarre Millionen begeisterte, er war auch ein bekannter Theater- und Filmschauspieler, hat Lieder fürs Kino komponiert, bei mehreren Hörspielen mitgemacht, schrieb Drehbücher und Prosa. Bis zu seinem Tod im Jahr 1980 verfasste er circa 700 Lieder.

Beim Meinungsaustausch zum Thema „Ob das Wyssozki-Denkmal in Charkiw bleiben darf oder abgerissen werden sollte“ werden die Teilnehmer*innen auf Social Media oft emotional. Ich verfolge diese Debatte mit großem Interesse, da ich überzeugt bin, dass uns in naher Zukunft viele ähnliche Diskussionen erwarten.

War Wyssozki ein Dissident oder nicht?

Die Verteidiger Wyssozkis sind in der Regel etwas älter, viele von ihnen durften ihn noch live erleben. Sie behaupten, dass der Sänger wie kein anderer sowjetischer Künstler den Geist der Freiheit in der UdSSR verkörperte und neben anderen Dissidenten mit seinen kritischen Songs gegen das System kämpfte.

Ihre Gegner weigern sich, Wyssozki als einen Dissidenten zu erkennen. Ein Dissident, der einer der wenigen Besitzer eines Mercedes-Wagens im Moskau der 1970er war? Ein tapferer Kämpfer gegen das Regime, der eine französische Filmdiva geheiratet hat? Kann man sein Schicksal mit dem von ukrainischen Dissidenten vergleichen, zum Beispiel mit dem des Dichters Wassyl Stus, der 23 Jahre seines kurzen Lebens in sowjetischen Straflagern verbrachte?

Braucht die Stadt ein Denkmal für einen Alkoholiker und Junkie, der russisch gesungen hat? Auch andere bekannte Interpreten und Bands haben in Charkiw gespielt, zum Beispiel Queen, aber bis jetzt ist keiner auf die Idee gekommen, ein Freddie-Mercury-Monument zu errichten!

Fragen über Fragen… Aber in diesem Zusammenhang halte ich nur zwei für wirklich wichtig, unabhängig von der Qualität von Wyssozkis Liedern und dem Grad seines Dissidententums: Wie relevant ist der Nachlass des Künstlers für Charkiw inmitten des russisch-ukrainischen Krieges? Und: ist es etwas, das wir unseren Kindern hinterlassen wollen?

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