zum Hauptinhalt
Ein zerstörtes Gemäuer gibt den Blick auf eine junge Ukrainerin frei.

© dpa/ALEXANDER ERMOCHENKO

Ukrainisches Kriegstagebuch (173): Für Europa war mein Land früher eine Parallelwelt

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Von Yuriy Gurzhy

30. September 2023

„Bonjour“ begrüßte er uns mit der ständig schlecht gelaunten Miene und machte eine längere Pause. „Normalerweise hätte ich noch ‘mes amis’ hinzugefügt, aber heute tue ich es nicht, weil Ihr mich sehr enttäuscht habt.“ Dass unsere Klasse wieder einmal eine Enttäuschung für unseren Französischlehrer darstellte, war nichts Neues.

Der „Franzose“, wie wir ihn nannten, schien uns offensichtlich nicht besonders zu mögen, und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Hätte ich während seines Unterrichts vor 32 Jahren besser aufgepasst, so könnte ich heute Abend bei der Probe mit dem Orchestre National du Vetex möglicherweise besser folgen.

Faszinierendes Sprachgewirr

Im belgischen Kortrijk üben wir für unser gemeinsames Konzert in Tournai, und im Proberaum herrscht ein faszinierendes Sprachgewirr. In der Band spielen sechzehn Musiker*innen aus verschiedenen Orten dieser Grenzregion zusammen, wobei sie miteinander sowohl Französisch als auch Flämisch sprechen. Um beim Konzert mitzumachen, ist zudem aus Barcelona Willy Fuego eingereist. Mit Willy wird’s auf Spanisch kommuniziert, mit mir auf Englisch. 

2020 haben wir gemeinsam zwei Songs geschrieben. Einer von ihnen, „Fly 2 Minsk“, handelt von den Ereignissen in Belarus. Als ich die ersten Bilder von den Massenprotesten gegen die Präsidentschaft von Aljaksandr Lukaschenka sah, erinnerten sie mich stark an die Tage der Maidan-Revolution in der Ukraine.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Ich habe an den Demonstrationen in Berlin teilgenommen – und war wie viele andere dort optimistisch hinsichtlich der Zukunft in Belarus. Unser Lied spiegelt diesen Optimismus wider. Bedenkt man, dass der Tyrann weiterhin an der Macht ist und Raketen aus Belarus seit Monaten in Richtung Ukraine abgeschossen werden, hört man ihn heute mit einem ganz anderen Gefühl.

In Belgien habe ich diesmal die Gelegenheit, einen anderen ukrainischen Musiker kennenzulernen, von dem ich in den letzten Jahren von gemeinsamen Freunden viel gehört habe. Chaim Rosenbaum stammt aus Sdolbuniw, einer kleinen Stadt im Westen des Landes, etwa 200 Kilometer von der ukrainisch-polnischen Grenze entfernt. Zuhause bei ihm wurde Polnisch, Ukrainisch und Jiddisch gesprochen. 

Chaim verkörpert das Bild eines echten Troubadours – er sieht nicht nur so aus, er lebt auch das Leben eines Vaganten. Seit Jahren reist er mit seiner Gitarre um die Welt und hat in den vergangenen drei Jahrzehnten bereits in Polen, Großbritannien und Israel gelebt. Derzeit wohnt er in Brüssel. Sein Repertoire besteht aus polnischen, jüdischen und ukrainischen Songs aus dem Grenzgebiet, aus dem er ursprünglich stammt.

Was nimmt man als Erinnerung mit, wenn man immer weiterzieht? Für mich sind es Lieder, die mich mit den verschiedenen Stationen meines Lebens verbinden.

Chaim Rosenbaum, ukrainischer Musiker

Im Innenhof von La Petite Fabriek in Froyennes unterhalten wir uns stundenlang und wechseln ständig zwischen Englisch und Ukrainisch. Wir sprechen über fluide Identitäten und stellen fest, dass wir beide eine Vorliebe für makkaronische Songs teilen, in denen Sprachen sich oft auf paradoxe Weise vermischen. 

„Meine Familie war ständig auf dem Sprung“, bemerkt Chaim, „was nimmt man aber als Erinnerung mit, wenn man immer weiterzieht? Für mich sind es Lieder, die mich mit den verschiedenen Stationen meines Lebens verbinden.“

Am folgenden Tag spielen wir mit Vetex in Tournai. Ich betrete die Bühne erst beim zehnten Lied, daher habe ich Gelegenheit, den Konzertanfang gemeinsam mit dem Publikum zu genießen. An der Bar komme ich ins Gespräch mit einer Bekannten des Veranstalters, die aus Dnipro stammt. In den vergangenen achtzehn Monaten erlebe ich das öfter: Triffst Du heutzutage eine*n Ukrainer*in, fühlt sich das wie eine Begegnung mit einem Verwandten an. Während unseres Gesprächs erfahre ich, dass der älteste Sohn ihrer Schwester an der Front gefallen ist.

Bereits am frühen Morgen verlasse ich Tournai mit dem ersten Zug. Ich döse ein, und als ich aufwache, sehe ich eine junge blonde Frau neben mir, die ihre beiden Töchter begleitet. Die ältere vertieft sich in ein Buch. Ich schaue genauer hin und erkenne, dass es sich um ein Lehrbuch der vierten Klasse für ukrainische Literatur handelt. 

Möglicherweise war die Ukraine für Europäer einmal eine Parallelwelt. Das ist sie nicht mehr. Die Ukrainer sind da, sie sind überall. Und der Krieg in ihrem Land geht weiter. Er muss letztendlich gewonnen werden. 

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false