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Pathos der Fakten. Johann Gottfried Seume in einem zeitgenössischen Stich.

© Abb.: R/D

Johann Gottfried Seumes „Mein Leben“: Ungeziefer begleitet mich nach Amerika

Nichts wird beschönigt: Johann Gottfried Seume erzählt in „Mein Leben“ von den frühen Jahren seiner gehetzten Existenz.

Seine Erdenzeit war knapp und Muße ein Fremdwort. Als er 1810 mit 47 Jahren starb, hatte er Amerika, Italien, Frankreich, Skandinavien und Russland gesehen. An Erfahrungsreichtum übertraf ihn höchstens der Weltumsegler Georg Forster, an Stolz und Ehrgefühl niemand, aber die Unmöglichkeit, vom Schreiben zu leben, teilte er mit dem trübseligsten Kollegen. Johann Gottfried Seume wurde 1763 als Sohn eines Gastwirts in ein durchaus hoffnungsvolles, ländliches Milieu geboren. Doch der Vater starb früh, die Mutter blieb mit fünf Kindern zurück.

Ein Lehrer erkannte die lebhafte Intelligenz des Knaben und vermittelte ihm die finanzielle Unterstützung des lokalen Barons für Schulbesuch und Universität. Nach zwei Semestern in Leipzig, wo ihm das Theater, nicht aber das verordnete Studium der Theologie gefiel, machte sich der 18-Jährige heimlich davon und wanderte westwärts, Ziel Paris, im Beutel ein paar Taler und im Kopf die lateinischen Klassiker. Wenige Wochen später pressten ihn Werber in die Söldnerarmee, die der Landgraf von Hessen an die englische Krone „vermietete“, um die Franzosen aus Amerika zu vertreiben. Zwei Jahre dauerte dieser „Ausflug“ in die Neue Welt, und als Seume glücklich zurück in Bremen und desertiert war, stand er wiederum vor der Frage, wovon er Brot und Bett bezahlen sollte.

Just bis zu diesem Punkt reicht „Mein Leben“ und enthält Denkwürdiges genug. Im Geschwindschritt marschiert der Autor durch die eigene Historie, die er mit einem eindrucksvollen Porträt des Vaters eröffnet. Von ihm erbte er das starke Temperament und den Zorn auf die ständische Ordnung. Öffentlich über Freiheit und Gleichheit nachzudenken, blieb auch nach der Französischen Revolution ein Wagnis, oft deutet Seume nur an, was ausführlicher darzulegen er sich verbietet: ein weiterer Grund für die komprimierte Kürze und den ironischen, grimmigen Ton dieser Erinnerungen.

Latentes Pathos der Fakten

Da lebt einer mit zusammengebissenen Zähnen und bringt, todkrank und mittellos, noch die Geschichte seiner Jugend zu Papier, um sie dem Arzt zu schenken, den er nicht bezahlen kann. Als Goethes „Dichtung und Wahrheit“ erscheint, künftiges Richtmaß deutschsprachiger Autobiografien, liegt Seume schon im Grab. Wer seine gehetzte Existenz mit des Olympiers Behaglichkeit vergleicht, zieht den Hut, diesmal nicht Richtung Weimar.

Manche Zeitgenossen fanden die Schilderung der wochenlangen Überfahrt nach Amerika rüde und wehrten sie ab. Sie ist jedoch ein Glanzstück und macht „Mein Leben“ zu einem Vorläufer der Moderne. Nichts wird beschönigt, nichts zum Melodram aufgebläht. Der Leser sieht die Verschläge, in die die Körper der „Gepressten“ zur Nacht gepresst wurden, riecht den verschimmelten Speck, der sie gerade noch vorm Verhungern bewahrte, ekelt sich vor dem Schicksalsgenossen, der aufgibt und seinen geschwächten Körper dem Ungeziefer überlässt. Seume ist einer der ersten, der das latente Pathos der Fakten entdeckt, nicht zuletzt, um das eigene Bild zu stilisieren.

Ein solcher Kerl, hart im Nehmen, aufrecht und aufrichtig! Kein Wunder, dass er zu einem der Lieblingsväter der 68er wurde. Ihnen bot er jene schonungslose Sicht auf die Verhältnisse, jene radikalen Urteile, die bei den Klassikern nicht zu finden waren. „Die ganze sogenannte deutsche Geschichte ist nichts als eine gelehrt dokumentierte Barbarey“ – wem hätte dieser Kernsatz nicht aus der Seele gesprochen? Oder das Credo: „Nur das Wirkliche fing an mich zu interessieren“ – wie ein Zitat von Büchner, der erst drei Jahre nach Seumes Tod geboren wurde. Es hätte auch zum kleinsten gemeinsamen Nenner der Gruppe 47 getaugt.

Auch im Verbergen war Seume ein Meister

Nicht so populär wie der berühmte „Spaziergang nach Syrakus“, da es Fragment blieb, wurde „Mein Leben“ dennoch immer neu aufgelegt, allerdings in der vom Verleger Göschen aus Angst vor der Zensur geglätteten Version. Das Manuskript blieb mehr als 200 Jahre in den Schubladen verschiedener Eigentümer, darunter Stefan Zweig, der es, in die Emigration getrieben, notgedrungen versteigern ließ. Der Schweizer Millionär und Sammler Bodmer erwarb es. Als der Seume-Enthusiast Jörg Drews Anfang der 90er Jahre eine kritische Ausgabe vorbereitete, wurde seine Bitte um Manuskripteinsicht abgelehnt: Auch er musste sich mit Göschens Fassung begnügen. Wie es dem Literaturwissenschaftler Dirk Sangmeister gelang, die Bodmer-Stiftung für den ersten originalgetreuen Druck von „Mein Leben“ zu gewinnen, verrät er nicht – es wäre des Erzählens sicher wert gewesen. Umso kompakter fallen Kommentar, Nachwort und Analysen aus, die ein gründlich recherchiertes, mit vielen frischen Archivfunden glänzendes Panorama entfalten, ohne die Widersprüche und offenen Fragen des Textes zuzudecken.

Denn auch im Verbergen war Seume ein Meister. Elegant gleitet er etwa über die Umstände hinweg, die ihn zum Soldaten machten. Wendeten die Werber Gewalt an? Oder lockten sie den Jugendlichen mit dem Versprechen auf Abenteuer und er unterzeichnete halb freiwillig? Kaum zurück aus Amerika, wurde er wieder Soldat, diesmal bei den Preußen, und hat auch da über die Modalitäten geschwiegen. Aber muss man ihm dieses Recht nicht zubilligen? „Misslich“ nennt er die Gattung Autobiografie in der Einleitung, da sie den Autor den Gefahren der Lächerlichkeit wie der Selbstüberschätzung aussetze. Beides hat Seume vermieden. „Mein Leben“ ist lebendige, spannende Literatur und, dank der Herkulesarbeit von Dirk Sangmeister, ein endlich gerettetes Monument.

Johann Gottlieb Seume: Mein Leben. Hrsg. von Dirk Sangmeister. Wallstein, Göttingen 2018. 479 Seiten, 34,90 €.

Gisela Trahms

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