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Bunte Glassplitter als Schutz eines Biotops. Der Glass Beach im kalifornischen Fort Bragg.

© imago images/toddmaertz

Anthropozän: Unsterblich ist nur die Turritopsis

Nathaniel Rich erkundet in seinen Reportagen die menschengemachte Verwüstung der Erde.

Seit der Jahrtausendwende debattieren Geologen, ob sie ein neues Erdzeitalter ausrufen wollen, ein „Anthropozän". Auch wenn dieser Begriff in Nathaniel Richs neuem Buch kaum Erwähnung findet, ist bezeichnet er treffend, wovon der Autor berichtet, wenn er von verseuchtem Grundwasser, begradigten Flüssen und schmelzenden Gletschern schreibt, von einem Planeten, dessen Zustand nicht mehr ohne den Einfluss der menschlichen Spezies denkbar ist.

„Second Nature“, heißt der Band mit Reportagen des US-Journalisten im Original, in der Übersetzung hat sein deutscher Verlag noch ein wenig religiöses Pathos hinzugefügt: „Die zweite Schöpfung – Wie der Mensch die Natur für immer verändert“.

[Nathaniel Rich: Die zweite Schöpfung. Wie der Mensch die Natur für immer verändert. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Rowohlt Berlin 2022. 320 Seiten, 24 €.]

In der Einleitung führt Rich seine Leser an einen kalifornischen Strand namens Glass Beach, früher eine Müllkippe, heute ein Touristenmagnet. Milliarden abgeschliffene Scherben funkeln in der Brandung, viele Ausflügler können nicht anders, als eine Handvoll von ihnen mitzunehmen. Doch damit gefährden sie ein neu entstandenes Biotop, das die Glasdecke längst als schützendes Dach angenommen hat.

Der Weg zurück ist verstellt

Der Strand ist nur so lange ein stabiler Lebensraum, wie er eine Deponie ist, weshalb Naturschützer seine fortwährende Vermüllung fordern. Die Botschaft ist eindeutig: Es gibt längst keine Natur ohne den Menschen mehr und sie zu bewahren, bedeutet auf eine kluge Weise in sie einzugreifen. Der Weg zurück ist für immer verstellt.

Das gilt auch für den menschlichen Körper, der beim Atmen, Essen, Trinken oder Schminken synthetische Stoffe aufnimmt. Rich zufolge sind es schätzungsweise 85 bei Männern und fast doppelt so viele bei Frauen – pro Tag. Manche können niemals abgebaut werden, darunter PFOA, eine stark krebserregende Chemikalie, die von ihrem Hersteller einfach in die Umwelt entsorgt wurde. Die Firma hat damit der nordamerikanischen Bevölkerung ein Erkennungszeichen eingebaut. Alle US-Bürger tragen den Stoff im Blut.

Nathaniel Rich, Jahrgang 1980, erreichte große Bekanntheit durch seinen internationalen Bestseller „Losing Earth“. Er erzählte darin von den Jahren 1979 bis 1989, als die Gefahren durch den menschengemachten Klimawandel bereits bekannt und Wissenschaftler und Aktivisten in den USA kurz davor waren, entscheidende Schritte zur Reduktion von Treibhausgasen durchzusetzen. Die Erhitzung der Erde hätte damals noch auf ein geringes Maß reduziert werden können. Doch die Helden dieser Geschichte kamen nicht gegen die Lobby der Industrie an, die Rettung der Welt wurde verschoben.

Bedrohung durch Traibhausgase

Ein Grund hierfür lag im fehlenden öffentlichen Druck. Die Bedrohung durch Treibhausgase war nicht erkennbar und blieb daher diffus. Doch auch deutlich sichtbare Zeichen können trügen. In einer Hügelsiedlung nördlich von Los Angeles entdeckten Bewohner auf einmal gelbe Flecken am Himmel. Ihr Ursprung war ein Gasdepot, aus dem über Monate Methan entwich.

Das Leck trug so viel zur Erderwärmung bei wie fast 2 Millionen Autos in einem ganzen Jahr. Doch das spielte in der Diskussion um die Katastrophe kaum eine Rolle. Die Bewohner der Gegend klagten stattdessen über Übelkeit, Nasenbluten, Kopf- und Halsschmerzen. Ihre Beschwerden dürften, so legt Rich nahe, psychosomatisch bedingt gewesen sein, nicht das Gas machte sie krank, sondern die Angst vor diesem. Denn Methan selbst ist nicht giftig für den einzelnen Menschen – sehr wohl aber für die Menschheit im Ganzen.

Der Schutz der Umwelt setzt heute also eine Art Exegese der titelgebenden zweiten Schöpfung voraus, eine Deutung der Zeichen eines Prozesses, den homo sapiens losgetreten hat, und um dessen Kontrolle er nun ringt. „Menschen brauchen Bilder, sie sind darauf geeicht, nach sichtbaren Beweisen für unsichtbare Gefahren zu suchen“, schreibt Rich und definiert damit auch sein journalistisches Programm.

Erzählungen von unbeugsamen Anwälten

Er verwandelt naturwissenschaftliche Forschung, langwierige Lobbyarbeit und juristische Prozesse um Natur- und Verbraucherschutz in Erzählungen von unbeugsamen Anwälten, leidenschaftlichen Forschern und verzweifelten Naturschützern.

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Einen Verbündeten findet er in dem brasilianischen Künstler Eduardo Kac, der im Jahr 2000 mit der Präsentation eines grün schimmernden Kaninchens eine Debatte über gentechnische Veränderungen von Lebewesen anstieß. Vor allem aber in dem dem japanischen Meeresbiologen Shin Kubota. Nach Feierabend tritt dieser als Karaoke-Star auf und besingt sein faszinierendes Haustier: Turritopsis.

Diese Qualle stirbt nicht, am Ende ihres Lebenszyklus verwandelt sie sich zurück in einen Polypen. Kubota ist überzeugt, dass die Menschheit durch die Erforschung der Art selbst Unsterblichkeit erlangen wird. Und doch tritt er auf die Bremse. Der Mensch sei mental noch nicht bereit. Um sich die Unsterblichkeit zu verdienen, müsse er zunächst lernen, auch alles andere Leben auf diesem Planeten zu lieben.

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