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Der Anwalt Rob Bilott (Mark Ruffalo) verbringt fast zwei Jahrzehnte damit, sich durch Berge von Beweismitteln zu wühlen.

© Tobis

Missbildungen, Mutationen, tote Tiere: „Vergiftete Wahrheit“ arbeitet einen wahren Umweltskandal auf

Das Justizdrama von Todd Haynes macht die Strapazen spürbar, die der Kampf gegen einen Chemiekonzern mit sich bringt. Mark Ruffalo spielt den Anwalt.

Cincinnati, kurz vor der Jahrtausendwende. Ein paar Farmer wagen sich in die Glastürme der Großstadt, sie tragen Baseball-Caps und Flanellhemden. Die Männer gehören ganz offensichtlich nicht hierher, in die Sphäre der Anwälte mit ihren feinen Anzügen und Frisuren, die wie Helme sitzen.

Einer der Männer, Wilbur Tennant (Bill Camp), trägt einen Karton mit Unterlagen und Videos, die seine Tiere zeigen: krankgemacht vom Chemieriesen DuPont, der neben seiner Farm eine Deponie errichtet hat. Rob Bilott (Mark Ruffalo) reagiert zurückhaltend. Er vertrete eigentlich die Konzerne, erklärt er. Doch Tennant kennt die Großmutter des Anwalts, also willigt der ein, einen Blick auf das Material zu werfen.

Ruffalo verpasst dem Juristen ein paar Kilo zu viel und einen Unterbiss. Bilott geht gebeugt, den Kopf eingezogen, als würde er jeden Moment einen Schlag erwarten. Dass der Schauspieler mit vollem Körpereinsatz in die Rolle eines Ermittlers schlüpft, ist nicht neu.

In „Spotlight“ spielte er einen Journalisten, der pädophilen Priestern auf der Spur ist. Diesmal lässt ein Umweltskandal seine Figur nicht zur Ruhe kommen.

Die Videos, die Tennant Bilott zuspielt, zeigen aggressive Rinder, offene Wunden, missgebildete Hufe, mutierte Organe. Genug, dass der zögerliche Anwalt den Fall schließlich annimmt. Auf seiner Farm in West Virginia zeigt Tennant ihm eine Handvoll Rinder, die er seine Herde nennt. Der Rest ruht auf einer Weide voller Gräber: 190 Tiere, alle Opfer des vergifteten Wassers.

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Über Jahre hat DuPont auf der Deponie nebenan giftigen Schlamm entsorgt. Perfluoroctansäure kommt seit den fünfziger Jahren zum Einsatz, um Oberflächen zu versiegeln, unter anderem bei der Herstellung von Teflon.

Über das Trinkwasser und Teflon-Produkte hat sich die krebserregende Substanz verbreitet und ist mittlerweile nahezu überall auf der Welt nachweisbar – auch im Blut von Menschen. Der Journalist Nathaniel Rich hat den Fall 2016 für die „New York Times“ aufgearbeitet. Sein Artikel dient nun als Vorlage für „Vergiftete Wahrheit“ von Todd Haynes.

Haynes scheint eine ungewöhnliche Wahl für einen spröden Justizthriller zu sein. Er setzt gern auf farbintensive Stilisierungen, im Glamrock-Rausch von „Velvet Goldmine“ oder in den Melodramen „Dem Himmel so fern“ und „Carol“, die in den Eisenhower-Jahren spielen.

Was sie mit „Vergiftete Wahrheit“ verbindet, ist Haynes’ Fähigkeit, das Drama überzeugend in seiner Zeit zu verorten. Nach einem Prolog in den Siebzigern spannt sich der Erzählbogen von den Neunzigern bis in die Gegenwart.

„Vergiftete Wahrheit“ bleibt bewusst sperrig

Auch inhaltlich gibt es Parallelen zu früheren Filmen. In „Safe“ von 1995 spielt Julianne Moore eine Hausfrau, die allergisch auf chemische Substanzen in ihrer Umgebung reagiert. Den aseptischen Horror des Films ersetzt Haynes in „Vergiftete Wahrheit“ durch grobkörnigen Realismus. Der Film macht spürbar, wie zäh ein solcher Fall verläuft. Jahre vergehen, immer wieder windet sich der Konzern aus der Verantwortung.

Haynes vertraut dabei auf die präzisen Dialoge seiner Autoren Mario Correa und Matthew Michael Carnahan. Er konzentriert sich auf die Wortgefechte in den Anhörungen und vor Gericht, stellt den Prozess jedoch nie als Showkampf dar. So haftet dem Film eine Aufrichtigkeit an, die dem Ethos seiner Hauptfigur entspricht. Er setzt dadurch auch weniger auf Pointen und Zuspitzungen als im Gerichtsdrama üblich.

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„Vergiftete Wahrheit“ bleibt bewusst sperrig. Auch die Bilder von Haynes’ Stamm-Kameramann Edward Lachman besitzen einen schroffen Charme, sie zeigen ein unwirtliches Amerika. Wenn in West Virginia Schnee fällt, verwandelt er die verseuchte Erde in eine Schlammpiste.

In den Fluren der Anwaltskanzlei lauern in allen Winkeln Schatten, als vermag Bilott noch nicht das Ausmaß der Wahrheit zu erkennen. Ähnlich setzt Lachman die Vogelperspektive ein. Tennants Farm, die Straßen Cincinnatis: „Vergiftete Wahrheit“zeigt sie aus luftiger Höhe und suggeriert damit, dass die Geschichte größer ist als die individuelle Tragödie.

In der Tradition von Whistleblower-Filmen wie „The Insider“

Einmal sitzt Bilott zwischen Bergen von Beweismitteln, und die Kamera zieht sich langsam zurück, bis sie unter der Decke zu hängen scheint. Das weckt Erinnerungen an den Watergate-Thriller „Die Unbestechlichen“, in dem Robert Redford und Dustin Hoffmann in der Library of Congress Karteikarten durchgehen.

Haynes distanziert sich vom Pathos von Justiz-Reißern à la Grisham, sein Film steht in der Tradition von Whistleblower-Filmen wie „The Insider“. Selbst eine Parkhaus-Szene darf nicht fehlen. Doch statt „Deep Throat“ wartet dort auf Bilott Gefahr für Leib und Leben.

Oder ist der Typ im Trenchcoat nur ein Produkt seiner Einbildung? Der Druck droht den Anwalt zu zermalmen, der Fall lässt ihn nicht mehr los. So wie der Film einen noch verfolgt, als man das Kino längst verlassen hat und sich Zuhause ein Spiegelei brät. In einer Pfanne mit Antihaft-Beschichtung.

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