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Magdeburg vor dem Fall. Im Mai 1631 wurde die Stadt von den kaiserlichen Heeren belagert und schließlich zerstört. Das grausige Geschehen zeigt dieser Kupferstich von Matthäus Merian d. Ä.

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Sharing Heritage: Europäisches Kulturerbejahr 2018: Was die Verwüstungen lehrten

Das Trauma des Dreißigjährigen Krieges grub sich tief in die Psyche der Deutschen. Herfried Münklers Analyse und Ausblick auf den Nahen Osten

Legt man die relativen Verluste zugrunde, so hat der Dreißigjährige Krieg stärker in die demographische Entwicklung Deutschlands eingegriffen als die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts zusammen: Am Ende des Krieges war die Bevölkerungszahl in den Gebieten, die das heutige Deutschland ausmachen, um ein Drittel zurückgegangen, viele kleinere Städte waren entvölkert, ganze Dörfer verschwunden, zuvor blühende Landschaften auf Jahrzehnte hin verwüstet. Dieser Krieg hatte in der Psyche der Menschen ein tiefes Trauma hinterlassen. Es war dies freilich kein Trauma „der Deutschen“, denn die hatten, von einer schmalen Schicht abgesehen, noch kein nationales Kollektivbewusstsein. Das Trauma bezog sich vielmehr auf Dörfer, Städte und landesherrschaftliche Gebiete. Man betete zu Gott, dass sich derlei nicht wiederholen möge. Das Politische lag auf einer Ebene jenseits dieser Traumatisierungen: Schon bald nach Friedensschluss dachte man an einigen Höfen nämlich erneut über Krieg nach – freilich über einen, der schnell geführt und nach einer großen Entscheidungsschlacht wieder beendet wurde.

Als kollektives Trauma der Deutschen bekam der Dreißigjährige Krieg erst seit der Entstehung kultureller Zusammengehörigkeitsvorstellungen politische Relevanz; das war seit dem späten 18. Jahrhundert der Fall. Da lag der Krieg indes bald anderthalb Jahrhunderte zurück, und es gab niemanden mehr, der sich persönlich daran erinnern konnte. Die Erinnerung an die furchtbaren Verwüstungen, die Grausamkeiten, den Hunger und die Seuchen wurden durch Literatur und Geschichtsschreibung wach gehalten, die sie immer wieder neu ins kollektive Gedächtnis einbrannten.

So entstand ein kollektives Trauma, das nicht im Gebet zu bearbeiten war, sondern aus dem man politisch zu lernen hatte: dass niemals wieder ein solcher Krieg, der ein Konfessionskrieg und ein Hegemonialkrieg zugleich war, auf deutschem Boden geführt werden dürfe. Ersteres lief auf die Entpolitisierung der konfessionellen Gegensätze hinaus, letzteres auf die Forderung nach einem starken Deutschland, das alle Feinde von seinem Territorium fernzuhalten in der Lage war. Dieser Imperativ wurde durch die napoleonischen Kriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts verstärkt.

Deutschland wollte fortan die stärkste Macht auf dem Kontinent sein

Die traumatische Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg hatte in Deutschland also eine ambivalente Wirkung: Einerseits führte sie dazu, dass sich eine konfessionelle Toleranz entwickelte, die im europäischen Vergleich beispielhaft war; andererseits führte sie dazu, dass die Berufung zum Kulturellen, wie sie den Deutschen von der Weimarer Klassik angesonnen worden ist, immer mehr durch eine Orientierung an Machtpolitik und Militär überlagert und verdrängt wurde. Wenn nämlich verhindert werden sollte, dass noch einmal ein europäischer Machtkampf auf deutschem Boden ausgetragen wurde, dann musste Deutschland nach allen Seiten hin zur Abwehr anderer Mächte in der Lage sein – und das hieß, dass es die stärkste Macht auf dem Kontinent sein musste.

Kollektives Gedächtnis und politische Agenda wirkten auf verhängnisvolle Weise zusammen. Dabei spielten weniger die Darstellungen des Krieges von Friedrich Schiller bis Ricarda Huch die zentrale Rolle, sondern dies taten die Schilderungen der Kriegsfolgen in Gustav Freytags „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“. Das hier dargestellte Elend wurde zur Aufforderung, eine Wiederholung dessen unter allen Umständen zu verhindern.

Die Präsenz des Krieges im kollektiven Gedächtnis der Deutschen hatte zur Folge, dass jede Debatte über die sicherheitspolitischen Herausforderungen des Landes durch die Konstellationen des Dreißigjährigen Krieges und die bei Beendigung des Krieges entstandene Ordnung Europas geprägt war. Zum einen hat die borussische Geschichtsschreibung den Aufstieg Preußens und die Bismarcksche Reichseinigung als Überwindung der im Westfälischen Frieden angeblich entstandenen „schwachen Mitte“ Europas gefeiert, und zum anderen breitete sich die Vorstellung aus, ein künftiger Krieg werde nicht mehr so kurz sein wie die Reichseinigungskriege. Vielmehr werde es sich um einen langen Krieg handeln, der durch den Grad der Erschöpfung und nicht durch den Sieg auf dem Schlachtfeld entschieden werde. Die Vorstellung vom Erschöpfungskrieg verband sich mit der Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg. Das historische Trauma wurde zur politischen Richtungsanzeige.

Moltke oder Schlieffen?

Man konnte aus der warnenden Erinnerung an den Krieg von 1618 bis 1648 die Konsequenz ziehen, ein solcher Krieg solle unbedingt verhindert werden. Das hatte der greise Helmuth von Moltke, der Sieger der Einigungskriege, im Auge, als er 1890 in seiner letzten Reichstagsrede vor einem europäischen Krieg warnte und darauf hinwies, dies könne ein Dreißigjähriger Krieg werden. Man konnte aber auch, wie dies Moltkes Nachfolger im Amt des Generalstabschefs taten, zu dem Ergebnis kommen, ein europäischer Krieg müsse, wenn es denn dazu komme, unter allen Umständen in Feindesland geführt werden. Um zu verhindern, dass Deutschland ein zweites Mal zum Hauptkriegsschauplatz eines europäischen Krieges wurde, musste man den Krieg strategisch offensiv planen – und genau das tat Graf Schlieffen in seinem verhängnisvollen Plan, die französischen Armeen in einer Angriffsbewegung durch das neutrale Belgien zu umfassen und niederzuwerfen. Die Umsetzung dieses strategischen Plans im Ersten Weltkrieg hatte den Kriegseintritt Großbritanniens zur Folge und führte damit zur Niederlage Deutschlands.

Politisches Lernen aus traumatischen Erinnerungen heraus ist heikel, denn es besteht das Risiko, dass das Trauma die Lernprozesse steuert und sie in die falsche Richtung lenkt. Doch ohne die Selbstvergewisserung, aus früheren Fehlern gelernt zu haben, gibt es kein Entkommen aus den traumatischen Konstellationen. Es bedarf der intellektuellen Distanz gegenüber beidem, der kollektiven Erinnerung wie den aktuellen Herausforderungen, um tendenziell richtige Entscheidungen zu treffen. Im Prinzip ist die Wissenschaft der Sachwalter solcher Distanznahmen, doch oft sind die geforderten Wissenschaftler als Bürger selbst politisch Betroffene. Dann durchkreuzt diese Betroffenheit die objektivierende Distanz.

Mehrere Konfliktursachen damals wie heute im Nahen Osten

Wenn man heute zu dem Ergebnis kommt, die Kriege im Nahen Osten, in Syrien, im Jemen und in Libyen seien dem Dreißigjährigen Krieg strukturanalog, dann ist das eine Feststellung von Beobachtern, die zum Geschehen eine erhebliche Distanz haben. Sie analysieren ohne traumatische Belastung: Wie der Dreißigjährige Krieg haben auch die Kriege im Nahen Osten Kriege mit einem Konflikt um die Machtverteilung im Innern der Staaten begonnen, und diese Konflikte sind schon bald durch religiös-konfessionelle Trennlinien intensiviert worden. Es handelt sich somit um hochdynamische Bürgerkriege.

Gleichzeitig geht es aber auch, wie beim Dreißigjährigen Krieg, um Konflikte zwischen Herrschaftsgebilden, die auf neue Grenzziehungen und größere Einflussgebiete aus sind; es sind somit auch Staaten- und Hegemonialkriege. Das Zusammenfallen dieser vier Konfliktursachen und der ihnen entsprechenden Kriegstypen wiederum ist (und war zwischen 1618 und 1648) für die Intensität, die Grausamkeit und die lange Dauer dieser Kriege verantwortlich.

Was kann man daraus lernen? Immerhin so viel, dass Verhandlungen, die zu einem verlässlichen Frieden führen, kompliziert sind und recht lange dauern werden – es müssen nicht gleich, wie in Münster und Osnabrück, mehr als vier Jahre sein.

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität. Gerade ist sein Buch „Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma“ bei Rowohlt Berlin erschienen.

Herfried Münkler

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