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Tagebuchsongs. Sharon Van Etten wohnt in New York.

© Ryan Pfluger

„Remind Me Tomorrow“ von Sharon Van Etten: Was mir auf der Seele liegt

Die amerikanische Singer-Songwriterin Sharon Van Etten findet auf ihrem fünften Album zu einem neuen optimistischen Sound.

Die Familie zieht Mitte der Achtziger in eine leicht baufällige viktorianische Villa im suburbanen New Jersey. Die Eltern erklären den Umzugshelfern gerade, welches Möbelstück in welches Zimmer kommt, während die fünfjährige Sharon und ihre großen Schwestern das Haus erkunden. Irgendwann fragt sich die Mutter: Wo steckt Sharon? Sie läuft von Raum zu Raum, bis sie ein leises Schluchzen hört. Es kommt aus dem Zimmer mit dem alten Klavier, das die Vorbesitzer zurückgelassen haben. Darunter kauert ihre Tochter.

Das ist das erste Erlebnis mit einem Musikinstrument, an das sich Sharon Van Etten heute, 32 Jahre später, erinnern kann. Ihre Mutter erzähle gerne davon, dass die Heranwachsende wie magisch von diesem Klavier angezogen worden sei. „Wie ich einfach nur dasaß auf dem Hocker, eine Note spielte, zuhörte, versuchte, dazu zu singen“, sagt Sharon Van Etten. Als aus einzelnen Noten mehrere wurden, dann ganze Akkorde, da wusste die Mutter: Sharon braucht Unterricht.

Das war die richtige Entscheidung, wie sich herausgestellt hat, denn Sharon Van Etten ist Musikerin geworden. Am Freitag erscheint ihr fünftes Album „Remind Me Tomorrow“, eine Platte, die Kraft spendet – auch Van Etten selbst. „Musik zu schreiben ist einfach etwas, das ich tun muss“, sagt sie am Telefon.

Seelenstriptease mit ordentlich Wumms

Dinge, die ihr widerfahren, wandelt sie um in Lieder. „Sie sind superpersönlich, sie sind mein Tagebuch“, erklärt sie. Früher waren das vor allem negative Erlebnisse und ihre Songs entsprechend traurig. Doch sobald sie die Stücke aufgenommen hat, in lockerer Stimmung, gemeinsam mit Freunden, konnte sie die unguten Erfahrungen hinter sich lassen. Ein Prozess wie eine Therapie. „Ich bin, wer ich bin, weil ich die Fähigkeit besitze, Songs zu schreiben“, erklärt sie. „Wenn ich dieses Ventil nicht hätte, wäre ich jemand vollkommen anderes.“

Auch auf „Remind Me Tomorrow“ wagt sie wieder den Seelenstriptease – allerdings packt sie diesmal ordentlich Wumms darunter. Einen Beat, der brummt, stampft und malmt, als würde er sich den Weg Richtung Club freiboxen. Die erste Singleauskopplung „Comeback Kid“ bringt er zu Beginn beinahe zum Bersten, bevor der Song sich derart eingroovt, dass man es fast wagen möchte zu tanzen.

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Sharon Van Etten hat ihren Liedern die bleierne Schwere ausgetrieben, ohne sich komplett von ihrem melancholischen Sound abzuwenden. Das Eröffnungsstück des neuen Albums, „I Told You Everything“, startet in der für sie typischen Manier: Van Etten sprenkelt einzelne Klavierakkorde in die Stille, ihre Stimme hebt an und schneidet tief ins Fleisch, bis alles bloßliegt, all die Zweifel, der Schmerz, aber auch die Erlösung, die darin liegt, ihn mit jemandem zu teilen: „Knowing everything, knowing everything, we cried/I told you everything about everything“ singt sie und dann erst hebt der Song richtig an, in Zeitlupe, aber extrem intensiv.

So grundsätzlich positiv das Album gestimmt ist, reine Feelgood-Hits gibt es von Sharon Van Etten auch heute nicht zu hören. So klingt bei „Seventeen“, einer Ode an das sich ewig wandelnde Brooklyn, ihrer aktuellen Heimat, der Düster- Pop von The National durch. Mit der Gruppe ist sie nicht nur vor fünf Jahren auf Tour gegangen, ihr Durchbruchsalbum „Tramp“ wurde auch von Bandmitglied Aaron Dessner produziert.

Sie weitet ihren Sound in Richtung Elektronik

Diesmal jedoch ist ein anderer für den Sound zuständig. In der Entstehungsphase der Platte hatte Sharon Van Etten einen Punkt erreicht, an dem sie einfach nicht weiterkam. Sie musste einen Schritt zurücktreten, die Songs anderen Einflüssen aussetzen. Also holte sie den Briten John Congleton ins Boot und gab ihm unter anderem Nick Cave als musikalischen Bezugspunkt vor. „Es ist das erste Mal, dass ich derart loslasse“, sagt sie.

Produzent Congleton verleiht „Remind Me Tomorrow“ eine Dynamik, die Van Ettens Alben bislang gefehlt hat. Gleichzeitig weitet er ihren Sound in Richtung Elektronik. Unter der Stimme der Sängerin öffnet sich ein Schlund, in den es hineinhallt und wirbelt. Besonders auf „Jupiter 4“, das nach dem Synthesizer aus ihrem Proberaum benannt ist.

Das Stück klingt wie die zugängliche Variante von Caves Trauerwerk „Skeleton Tree“. Es kreist auf der Stelle und scheint kurz vor einem Ausbruch zu stehen, der dann doch nicht kommt. Dabei ist der Song eigentlich ein Liebeslied für Van Ettens Freund Zeke Hutchins. Sie singt Sätze wie „Mein ganzes Leben lang habe ich nach jemandem wie dir gesucht“ und ganz oft „Baby, Baby, Baby“.

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Die Zeiten, in denen sie, wie auf ihrem Debüt vor zehn Jahren, allein zur Gitarre Lieder gesungen hat, die auf Beerdigungen laufen könnten, sind vorbei. Genauso wie die Zeiten, in denen sie die Miete für ihr Apartment nicht mehr bezahlen konnte und in ihrem Auto lebte. Oder in denen ihr Ex-Freund sie kleingemacht und jeden kreativen Impuls in ihr erstickt hat.

All das ist Vergangenheit. Jetzt lebt die Musikerin mit Hutchins zusammen, ihrem ehemaligen Drummer, aktuellem Manager – und Vater ihres Kindes. Im März feiert der Sohn seinen zweiten Geburtstag. Da wird Van Etten schon auf Tour sein. Eine Aussicht, die bei ihr auch Befürchtungen auslöst: „Wenn ich an die kommende Tour denke, bin ich schon nervös“, sagt sie. Erstmals wird Van Etten zwar mit Band, aber ohne Instrument in den Händen auftreten. „Es wird neu für mich sein, einfach nur als Sängerin auf der Bühne zu stehen – aber auch aufregend.“ Sharon Van Etten, diese schmale, energiegeladene Person mit dunklem Haar und durchdringendem Blick, schlüpft dann in eine Rolle, „in eine überhöhte Version meiner selbst“, wie sie es ausdrückt.

Ihr Langzeitziel ist, Therapeutin zu werden

Sie will ganz bewusst, dass ihr Sohn aufwächst und sie arbeiten sieht. „Dass er erlebt, wie ich traurig und wie ich glücklich bin. Wie ich die Dinge tue, die ich liebe“, sagt sie. Davon gibt es tatsächlich eine ganze Menge. So schrieb sie in den vergangenen drei Jahren den Soundtrack für das Kinodrama „Strange Weather“, trat in der neuen „Twin Peaks“-Staffel auf und spielte eine Nebenrolle in der Science-Fiction-Serie „The OA“. Sogar als Comedian hat sie sich ausprobiert. „Die Leute wären bestimmt überrascht, wenn sie mitbekommen würden, wie gern ich Witze reiße“, sagt sie und lacht.

Obendrein hat Sharon Van Etten auch noch ein Psychologiestudium angefangen. „Mein Langzeitziel ist, eine Therapeutin zu sein und meine eigene Praxis zu haben, wenn ich fünfzig bin“, sagt sie. In der Uni muss sie bei null anfangen, aber eine gewisse Vorbildung bringt sie dennoch mit: fünf Musikalben mit lauter kurzen, aber effektiven Therapiesitzungen.

„Remind Me Tomorrow“ erscheint bei Jagjaguwar/Cargo Records. Konzert: 5. April, 20 Uhr, Columbia Theater

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