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Seismographien der Gegenwart. Blick in die Ausstellung „Detect“ in der Galerie Parterre mit Arbeiten von Susanne Britz und Hanna Hennenkemper.

© Marjorie Brunet Plaza; Susanne Britz und die VG Bild-Kunst, Bonn, 2022 ; Hanna Hennenkemper

Was war da los 2022?: Gezeichneter Jahresrückblick in der Galerie Parterre

Künstlerzeitschrift „Prolog“: Das Heft wird 25 und feiert in der Juliäumsausgabe das Thema Zeichnung. In einer Ausstellung dürfen die Bilder auch an die Wand.

„Detect“ heißt erkennen, aufdecken, feststellen, wahrnehmen. Was war da los im Jahr 2022? Zeichnende und Schreibende halten es fest. Ihre Arbeiten sind Seismographien und Temperaturmesser gesellschaftlicher Zustände, trotz oder gerade wegen ihrer radikalen, uneingeschränkten Subjektivität.

Das aktuelle Themenheft der Künstlerzeitschrift „Prolog“, die sich seit 15 Jahren als Plattform für Zeichnung und Text begreift und im Selbstverlag erscheint, versammelt 66 Positionen von Adam Cmiel bis Xenia Gorzny. Sie tasten die Welt ab.

Die kommunale Galerie Parterre in Prenzlauer Berg erlaubt den Zeichnenden, wandfüllend und raumbeherrschend zu entfalten, was sonst nur im Din A4-Format zu durchblättern ist. Beides, Zeitschrift und Ausstellung, hat das Künstlerduo Dorit Trebeljahr und Anton Schwarzbach gestaltet. Zum Feiern ist beiden trotz Jubiläums nicht zu Mute. „Corona und dann dieser schreckliche Krieg haben vielen Künstler:innen zugesetzt,“ sagt Trebeljahr. Ihr über Jahre aufgebautes Netzwerk reicht bis nach Rom und Riga.

20 Künstler:innen aus der Prolog-Community stellen aus

Aber sind das nicht nur Alltäglichkeiten, die der kroatische Künstler Jamesdin da mit Farbstiften krakelig auf Skizzenblättern notiert? Auch seine kleine Tochter, die er ungeschönt festhielt beim Sitzen, Liegen, Brüllen und Lachen, durfte mitzeichnen: ungefilterte Spuren einer zeichnenden Hand ohne perfekte Kontrolle. „Eine gute Zeichnung ist nicht unbedingt gut gezeichnet,“ kommentiert Schwarzbach.

Eine enorme Bandbreite kennzeichnet die ausgestellten Arbeiten von 20 Künstler:innen aus der Prolog-Community. Was überhaupt Zeichnung ist, wird hier bis an die Grenzen des Mediums ausgelotet. Über 200 Blatt liniertes Papier hat die in Berlin lebende Anke Becker in minimalistisch-präzisem Rhythmus an die Wand gepinnt, sodass der Zeichengrund plastische Wellen wirft. Über diesen Hindernisparcours ließ sie blaue Schultinte tropfen: Strukturen des Fließens schrieben sich ein wie abstrakte Musik.

Dagegen fast unsichtbar und nur aus nächster Nähe wahrzunehmen sind die weiß auf weiß gezeichneten Linienlabyrinthe von Christian Pilz. Aber sie beharren darauf, dass Kunst weitermacht, egal was sonst geschieht. Andere Zeichnende reagieren politisch, greifen Tagesaktuelles auf. Spürbar werden Krisen aller Orten. Die bedrohlich klaffenden Fels- und Eis-Strukturen von Ralf Tekaat übersetzen schwindende Gletscher in albtraumhafte Szenerien von strengem Schwarzweiß. Tag für Tag antwortet Christa Niestrath mit einem Bild verknappt auf die Nachrichten der Welt, ob Mahsa Amini, Documenta-Streit oder Tod der Queen. Seit dem 24. Februar tuscht sie winzig klein eine gelbblaue Fahne im Eck dazu.

Christine Kriegerowski riesengroß aufgeblähtes Gemüse protestieren gegen EU-Normen (mitte). Links: Ralf Tekat „Massiv 9“. Rechts: Matthias Geitel, Aus der Serie Knäuel-Module.

© Marjorie Brunet Plaza; Ralf Tekaat und die VG Bild-Kunst, Bonn, 2022; Christine Kriegerowski; Matthias Geitel und die VG Bild-Kunst, Bonn, 2022

Im Heft „Prolog“ begegnen die Arbeiten der Zeichnenden Gedichten, Wortmeldungen, Texten. Nicht als Jury, sondern als Künstler unter ihresgleichen begreifen sich die beiden Herausgebenden. Ihnen geht es um Austausch. Hunderte von Beiträgen treffen zweimal im Jahr als Reaktion auf das jeweils gesetzte Thema hin für die nächste Ausgabe ein. Dann wird gesichtet, geordnet, gedruckt und schließlich der Vertrieb, etwa über einzelne Buchhandlungen, organisiert. Aber das wird jedes Jahr schwieriger, seit Corona erst recht.

 Eine gute Zeichnung ist nicht unbedingt gut gezeichnet.

Anton Schwarzbach , hat mit Dorit Trebeljahr Zeitschrift und Ausstellung gestaltet

Die herrlich krummen Auberginen, grinsenden Tomaten und widerspenstigen Möhren, die Christine Kriegerowski riesengroß und farbstark aufgebläht, protestieren gegen EU-Normen. Gänzlich andere Stillleben zeichnet Susanne Koheil. Sie misst die Abstände zwischen den Dingen ihrer Arrangements und übersetzt sie in minutiöse Liniendiagramme. Das gänzlich abstrakte Resultat ist ein getreues „Abbild“ der Natur.

Die Berlinerin Susanne Britz greift erst gar nicht zum Stift. Einen ausgeklappten Wäscheständer, einen lädierten Rodelschlitten, buntes Plastikspielzeug, Küchensiebe und Spanngurte hat sie vor Ort freischwebend an dünnen Fäden zu einem störrisch-heiteren Mobile komponiert. Derart luftig vernetzt geht das Sammelsurium gemeinsam auf neue Fahrt. Ist das noch Zeichnung? Die Linien sind da. Das Weiß der Wand gibt den Bildgrund ab. Letztlich bleibt es dabei: Zeichnen konturiert Gedanken.

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