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Europäische Solidarität. Der Italiener Guiseppe Garibaldi hilft in Marseille, 1836. Die Franzosen helfen in Polen.

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Gemeinsam gegen die Seuche: Wie die Cholera-Krise 1831 europäische Solidarität schuf

Als in Polen die Cholera ausbrach, kamen französische Ärzte den Menschen zu Hilfe. Sie setzten sich über politische Interessen und nationale Grenzen hinweg.

Die Autorin lehrt Europäische Geschichte an der Universität Rostock.

Erst kamen die Russen. Und dann die Cholera. Warschau glich im Frühjahr 1831 einem Hexenkessel. Russische Truppen waren nach Polen einmarschiert und lieferten sich vor den Toren Warschaus heftige Gefechte mit der polnischen Armee.

Die russischen Kriegsgefangenen, die in Militärlagern mitten in der Stadt kaserniert wurden, brachten die Cholera mit, jene unbekannte Epidemie, die aus gesunden Soldaten binnen zwölf Stunden Sterbende machen konnte. Zudem wütete in Warschaus Armenvierteln bereits der Typhus.

In dieser Situation, als nationale Revolutionen Europa erschütterten, 1830 in Paris, dann in Brüssel, und jetzt in Warschau, gelang es der Pariser Zivilgesellschaft gegen den Willen der französischen Regierung, einen humanitären Korridor quer durch Europa zu bauen und sechzig Ärzte mit Medikamenten nach Warschau zu schicken.

Doch wie konnten Ärzte aus Frankreich, wo es die Cholera bisher nie gegeben hatte, jetzt in Warschau helfen, wo eine Stadt von rund 120 000 Einwohnern seit April 1831 täglich 100 Todesfälle verzeichnen musste?

Aktivisten für die Menschlichkeit

Das Schicksal Polen ist nicht die Sache einer Nation, sondern Sache der ganzen Menschheit: Mit dieser Botschaft wollte das 1830 in Paris gegründete französisch-polnische Komitee die Politik der europäischen Mächte umgehen, die nicht das geringste Interesse hatten, ihr Verhältnis zu Russland durch Hilfe für polnische Revolutionäre zu gefährden.

Während die französische Regierung jede Hilfe ablehnte, mobilisierte das französisch-polnische Komitee erfolgreich die kulturelle Elite der Stadt, die Chefredakteure aller großen Zeitungen, Schriftsteller wie Victor Hugo und Alexandre Dumas, um Spenden, Freiwillige und Ärzte nach Warschau zu senden.

Doch auch die Aktivisten für globale Menschlichkeit hatten nationale Interessen. Durch die Unterstützung Polens, medizinisch wie militärisch, könne der Marsch russischer Truppen auf Paris verhindert werden, den der russische Zar androhte.

Denn nicht nur die Polen hatten den Zaren als ihren Herrscher abgesetzt, auch die Franzosen hatten ihren Bourbonenkönig erst wenige Monate zuvor vom Thron gestürzt, was den Verwalter eines konservativen Gleichgewichts, den russischen Autokraten Nicholas I., aufs Höchste provozierte.

Konflikt zwischen polnischen und französischen Ärzten

Die Pariser Solidarität mit dem umkämpften und durchseuchten Warschau war überwältigend. Im Frühjahr 1831 verließen rund sechzig Ärzte in zwei Konvois Paris. Nur vierzig von ihnen erreichten die polnische Hauptstadt, den Rest hielten preußische Behörden an der Grenze zurück.

Doch angekommen in Warschau trafen die französischen Ärzte und Medizinstudenten auf eine Situation, die völlig anders war als in Paris gedacht.

Der Konflikt entzündete sich zwischen polnischen und französischen Medizinern über den Charakter der Epidemie, ihre Infektionswege und die richtigen Heilmittel. Keiner kannte die Seuche.

1828 war Russland das erste europäische Land, das mit dem Ausbruch der Cholera auf eigenem Territorium konfrontiert war und keine Antwort wusste, wie der russische Kriegsminister 1829 verzweifelt schrieb: „Die Cholera bringt uns in eine Lage, wie wir sie nie zuvor gekannt haben.“

Man injizierte sich Blut und Ausscheidungen von Kranken

Als die Pandemie sich 1831 von Moskau nach Warschau und von dort nach Preußen, Österreich, Frankreich, Holland und in die USA verbreitete, setzten alle Regierungen auf Kontaktsperren: Familiäre Quarantäne, das Durchräuchern von Stadtvierteln, Desinfektion und Isolation waren kommunale Maßnahmen, weiträumige Cordon Sanitaires, Sicherheitszonen, mit den Preußen beispielsweise 1831 die gesamte Grenze zu Russland sperrte, waren nationale Maßnahmen, zu denen die Regierungen griffen.

In Warschau führten der Streit über die richtigen Maßnahmen, Sprachschwierigkeiten, Kompetenzgerangel und die Überforderung dazu, dass die polnischen Behörden die Forderungen der Franzosen nach strenger Quarantäne und Desinfektion zunächst ablehnten. An der Behandlung der Kranken zunächst gehindert, verlegten sich die französischen Ärzte auf die Erforschung der Epidemie.

Dr. Foy, der Leiter des Konvois, und fünf weitere Ärzte, injizierten sich selbst Blut und Ausscheidungen von Cholera-Infizierten, um zu prüfen, ob die Krankheit von Mensch zu Mensch übertragen würde.

Keiner der französischen Ärzte und ihrer Mannschaft erkrankte, was zunächst auf andere Ursachen der Krankheit verwies. Als die Epidemie im Sommer 1831 in Warschau abebbte und nach Preußen wanderte, wo Berlin zum neuen Zentrum der Seuche wurde, verließen die französischen Ärzte Warschau, ihr neu gewonnenes Wissen im Gepäck.

Die wahre Ursache der Seuche wurde viel später entdeckt

Zurück in Paris stießen sie ihrerseits auf nationale Vorurteile gegenüber ihren Warschauer Erfahrungen. Dr. Foy, der seine Befunde an die Academie de Médicine gesandt hatte, erhielt nicht einmal eine Antwort. Doch all die nationalen Sperrzonen halfen nichts, die Seuche erreichte im Frühjahr 1832 auch Frankreich, wo 100 000 Menschen erkrankten.

Erst als die Methoden der Pariser Stadtverwaltung nichts brachten, die Hospitalbetten nicht mehr ausreichten, die Todesrate auf 600 Menschen pro Tag schnellte und die Pariser Unterschichten zu revoltieren begannen, bat die französische Regierung Dr. Foy, Gegenmaßnahmen aus seinen Warschauer Erfahrungen vorzuschlagen.

Im Gegensatz zur falschen Annahme eines Virus, das sich durch menschlichen Kontakt verbreite und durch Quarantäne bekämpft werden könne, wurde die wahre Ursache der Seuche erst fünfzig Jahre später entdeckt. 1884 fand der Berliner Arzt Robert Koch den tatsächlichen Erreger, das Cholera-Bakterium, das meist durch fäkalienverschmutzes Trinkwasser übertragen wurde.

Diplomatie der Völker

Am Anfang der ersten Cholera-Pandemie Europas stand europäische Solidarität. Die Resultate des Ärztekonvois, den die Pariser Zivilgesellschaft 1831 nach Warschau schickte, waren indes ambivalent. Medizinisch scheiterte die transnational gedachte Hilfe an nationalen Vorurteilen, die die Behandlung der polnischen Kranken zunächst verhinderten.

Wissenschaftlich war die Entsendung ein Erfolg, da die Forschung der Franzosen Kenntnisse über die Seuche erbrachten, die weg vom menschlichen Kontakt als Ursache der Ansteckung wiesen und andere Faktoren für möglich hielten. Politisch galt die Mission vielen Zeitgenossen als Beispiel einer Diplomatie der Völker, wo die Diplomatie der Mächte versagt hatte.

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