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Japan

© Berlinale

Forum: Yu liebt Yoko liebt Yu

Marienkult und Geburt bei Vollmond: Japanische Filme im Forum sind poppig bunt und manchmal melodramatisch.

Mit „Love Exposure“ („Ai no mukidashi“) wird das Forum-Programm eröffnet – mit Marienkult und Liebesexplosionen, Sex und Sekten, popbunten religiösen Ritualen und schrillen Tabubrüchen, mit vier Stunden Grand Guignol und Kasperletheater. Die Liebesgeschichte zwischen Yu und Yoko: Zunächst stehen ihr höchste Mächte, tiefste Gefühle und niedrigste Instinkte im Weg. Von seiner Mutter erhält Yu den Auftrag, eine Marien-Inkarnation auf Erden als Geliebte zu finden, der Vater verlangt von ihm eine tägliche Beichte. Yu weiß nicht, woher er die Sünden dafür nehmen soll, bis er das weite Feld des Obszönen entdeckt. Nach hartem Sündentraining bringt er es zur Inauguration als voyeuristischer Foto -Meister.

Kameras werden ferngelenkt oder nach dem Yo-Yo-Prinzip auf akrobatische Weise so in Stellung gebracht, dass sie Aufnahmen von Schlüpfern ahnungsloser Schülerinnen machen. Aber die Wirkung geht kaum über die Wäsche reklame eines Versandhauskatalogs hinaus. So gibt es zwar allerhand Kinderkram zu beichten, aber Yu erreicht einfach nicht das, was in diesem Film in rekordverdächtiger Häufigkeit verbal beschworen wird: japanisch „bokki“ (lat. „erectio“, engl. Untertitel: „hard-on“, ugs. „Ständer“). Bis zu dem Moment im Kung-Fu-Straßenkampf, da er des Mädchens Yoko ansichtig wird – ein Handkantenschlag, und die Liebe bricht aus.

Ein Schleier sinkt auf ihr Haupt, und er hat seine Maria gefunden. Doch da taucht mit vampirhaftem Lächeln eine Rivalin von der Zero-Sekte auf, die aus Rache für Inzest und Vergewaltigung blutspritzende Aktionen in Form von Entmannung inszeniert – in ihrem Fall also von Ent-Vaterung . Wer so etwas für unrealistische religiöse Übertreibung hält, braucht nur an die reale Institution zu denken, die Volksverhetzer und Holocaust-Leugner in Amt und Würden setzt. Von nun an schießen auch Yus „bokki“-Anfälle angesichts seiner Maria heftig ins Bild, einmal wird von solch überwältigender Ausstellung der Liebe und des Begehrens direkt auf ein Kreuz geschnitten, das steil aufgerichtet wird, und davor posiert Yoko Maria rediviva. Freilich läuft die ständige Jagd einer entfesselten Einbildungskraft nach Effekten schließlich ins Leere. Vier Stunden erektil sein, das kann nicht mal ein Film durchhalten.

Jedenfalls markiert „Love Exposure“ den denkbar größten Gegensatz zum Dokumentarfilm „Mental“ („Seishin“). Mit „Campaign“ (2007 im Forum) gelang Regisseur Soda Kazuhiro ein eindrucksvoller Einblick in die Parteiendemokratie, in der die Politfunktionäre ihre Wahlkampfmarionetten mit Leerformeln füttern. „Mental“ kommt schlichter daher. In einer ambulanten Psychiatrie schildern Patienten ihre Leiden: Essstörungen, Schuldgefühle, Selbstmordpläne. Alle reagieren „einfühlsam“, nie flippt einer aus, keiner verliert die Geduld. Vorangestellt ist dem Film der Wunsch, den „Vorhang“ zwischen den Menschen zu überwinden: ein großes oder ein bescheidenes Ziel?

Wie eine Fortsetzung mit den Mitteln des Spielfilms wirkt „Naked of Defenses“ („Mubobi“) von Ichii Masahide. Es geht um zwei Frauen: Ritsuko hat eine Fehlgeburt im Auto erlitten, Chinatsu ist schwanger, das führt zu einem Vorhang zwischen ihnen aus Misstrauen und Automobiltrauma. In einsamer Gegend setzen überfallartig die Wehen ein. Ritsuko kämpft sich durch ihren Neid sowie durch schlammige Erde zu einem Auto und zur sicheren Fahrt ins Krankenhaus. Glückliche Geburt, intensive Blicke zwischen schweißgebadeter Mutter und schlammverkrusteter Retterin, Vollmond, melodramatisches Ende. So fallen nicht nur Vorhänge, sondern brechen ganze Mauern zwischen Menschen nieder.

Subtiler geht „Deep in the Valley“ („Yanaka boshoku“) von Funahashi Atsushi vor. Eine Liebeserklärung an den alten Stadtteil Yanaka in Tokio. Eine Suche nach dem buddhistischen Tempel: 1644 erbaut, 1791 erneuert, 1957 abgebrannt.

Augenzeugen der Nacht des Schreckens. Ein Mädchen auf der Suche nach altem Foto- und Filmmaterial. Ein Zimmermann vom Bau der Pagode in der Edo-Periode. Eine Liebesgeschichte zwischen den Generationen. Ein Spiel von Fiktion und Dokumentation mit Vergangenheit und Gegenwart. Eine Meditation in Schwarz-Weiß und ein 8-mm-Film mit dem flammenden Inferno. Die originalen Baupläne für den Neuaufbau. Weiter schwebt der Geist der verehrten Pagode über Yanaka. 

Helmut Merker

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