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Historikerin Verena Nägel ist Projektmanagerin im Online-Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945“.

© Bernd Wannenmacher

Lernen durch Interviews: Sklaven der Nazis

Das „Zwangsarbeiterarchiv“ sammelt Zeitzeugenberichte. Nun sind Lebenserinnerungen von Betroffenen aus der West-Ukraine abrufbar.

Rund 20 Millionen Menschen aus ganz Europa mussten im Zweiten Weltkrieg für das nationalsozialistische Deutschland Zwangsarbeit leisten. Vor allem Männer, Frauen und auch Kinder aus der damaligen Sowjetunion, aus Frankreich, Polen und Italien wurden als Arbeitskräfte für die deutsche Kriegswirtschaft missbraucht. Sie kamen überall zum Einsatz – in deutschen Rüstungsfirmen ebenso wie in der Landwirtschaft oder in Privathaushalten.

Die Betroffenen lebten oft eingepfercht in Lagerbaracken, wurden von der SS streng überwacht, verhungerten wegen Nahrungsmittelknappheit oder wurden von den Nazis umgebracht. Über ihre Schicksale informiert seit 2008 das Online-Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945 – Erinnerungen und Geschichte“, das an der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin angesiedelt ist und von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gefördert wird.

Rund 600 Interviews aus 26 Ländern mit Lebenserinnerungen ehemaliger Häftlinge von Konzentrationslagern, Kriegsgefangenen sowie Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern wurden hier gesammelt und für die Nachwelt aufbereitet. Genutzt wird das Archiv vor allem von Forschenden, für den Schulunterricht, aber auch von der interessierten Öffentlichkeit. So gibt es bis heute immer wieder Anfragen von Nachkommen der Opfer, aber auch der Täter der NS-Zwangsarbeit, die sich mit der Geschichte ihrer Vorfahren auseinandersetzen wollen, wie die Projektmanagerin des Archivs Verena Nägel betont.

Zeitzeugen erzählen in 40 Interviews von ihrer Verschleppung

Seit Juni 2022 ergänzt eine neue Teilsammlung das Archiv mit rund 40 Zeitzeugeninterviews von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus der West-Ukraine. In Video- oder Audioaufnahmen berichten 17 Frauen und 23 Männer über ihr Aufwachsen in der West-Ukraine und ihre Verschleppung nach Deutschland oder über ihre Deportation in Konzentrationslager. Nach ihrer Rückkehr in die Heimat erlitten viele von ihnen eine zweite Verfolgung und wurden in Umerziehungslager interniert, da sie in den Augen der Sowjetmacht zunächst als deutsche Kollaborateure galten. So berichtet die aus der Nähe von Lwiw stammende, 1923 geborene Anna P. zunächst über ihre Zeit als Zwangsarbeiterin auf einem Bauernhof in der Nähe von Bocholt: „Ich kannte bereits meine Aufgaben, ich wusste, dass ich um fünf aufstehen und Kühe melken musste. Es gab ja zwölf Kühe, und diese melkte ich per Hand dreimal am Tag.“

Später nach ihrer Rückkehr in die Ukraine wurde sie in ein sowjetisches Lager interniert. Anna P. erinnert sich: „Wir fuhren also mit den Lastschiffen, und das Wasser haben wir aus dem Fluss trinken müssen. Doch dieses war mit dem Toilettenabwasser und allem anderen verunreinigt, wir kochten das Wasser nicht ab, man gab uns dieses zu trinken, und wir haben es getrunken.“

Die wissenschaftliche Leitung für die neue Teilsammlung hatte die Kiewer Historikerin Kateryna Kobchenko. Sie betont: „Die Interviews der Sammlung spiegeln die besondere Erfahrung west-ukrainischer NS-Zwangsarbeiterinnen und -Zwangsarbeiter wider.“ Das Gebiet um Lwiw gehörte in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg zu Polen. Im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts kam die West-Ukraine in den Jahren 1939 bis 1941 unter sowjetische Besatzung.

Unter NS-Herrschaft gab es 2,4 Millionen ukrainische Zwangsarbeiter:innen

Dies habe zu einer zunächst eher positiven Haltung der Bevölkerung gegenüber der folgenden deutschen Besatzung geführt, erklärt die Historikerin: „Dies änderte sich – nicht zuletzt wegen der Zwangsrekrutierung der Arbeitskräfte für Deutschland.“ Außerdem sei die ukrainisch-nationalistische Bewegung gestärkt worden, die alle Besatzungsmächte als feindlich betrachtete. „Die Interviews enthalten viele Details, die man in anderen Quellen kaum findet“, sagt Kateryna Kobchenko weiter. Besonders wertvoll seien speziell diese Erinnerungsberichte, weil viele der interviewten Personen vorher noch nie öffentlich über ihre Erfahrungen gesprochen hatten.

Insgesamt gab es während der nationalsozialistischen Herrschaft rund 2,4 Millionen ukrainische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Die meisten von ihnen stammten aus der Ost-Ukraine und litten als sogenannte Ostarbeiter besonders unter der NS-Herrschaft. Zu ihrem Schicksal war schon länger eine Teilsammlung im Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945“ zugänglich.

Dass nun die neuen Interviews aus der West-Ukraine gerade in diesem Jahr veröffentlicht wurden, habe mit dem russischen Angriffskrieg nichts zu tun, betont Verena Nägel. Die Bereitstellung dieser Teilsammlung in dem Archiv sei schon seit mehreren Jahren geplant gewesen. Durch die Pandemie – und weil noch Nutzungsrechte hätten geklärt werden müssen – habe es Verzögerungen gegeben. „Aber gerade vor dem Hintergrund des aktuellen Krieges bieten die Interviews einen wertvollen Einblick in die ukrainische Zeitgeschichte; sie beschreiben eindrücklich die Folgen von Krieg und Besatzung für den einzelnen Menschen“, sagt die Projektmanagerin.

Das Online-Archiv ist für jeden kostenlos nutzbar

Die Lebenserinnerungen der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus ganz Europa stehen allen Interessierten zur Verfügung. Für den vollständigen Zugriff auf das Archiv ist eine kostenfreie Registrierung Voraussetzung. Diese sei für den Schutz von Persönlichkeitsrechten der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen nötig, erklärt Verena Nägel.

Seit Jahren besteht ein konstantes Interesse an dem Online-Archiv. Aktuell zählt es 13 036 registrierte Nutzerinnen und Nutzer. In den Pandemiejahren 2020 und 2021 etwa wurden das Online-Archiv und seine begleitende Lernanwendung verstärkt von Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern im Distanz-Unterricht genutzt.

Für den Inhalt dieses Textes ist die Freie Universität Berlin verantwortlich.

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