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Meinung: Gastkommentar: Wir haben genauso viel Angst wie ihr

Kurzzeitig brachte der Terroranschlag in New York und Washington Unruhe in das atlantische Bündnis. Wer ist nun zu welcher Hilfe verpflichtet?

Kurzzeitig brachte der Terroranschlag in New York und Washington Unruhe in das atlantische Bündnis. Wer ist nun zu welcher Hilfe verpflichtet? Doch inzwischen hat sich gezeigt, dass die neue Herausforderung Europa und Amerika fester aneinander bindet. Großen Eindruck haben die Demonstrationen der Solidarität vor dem Brandenburger Tor, in London und anderswo auf die Menschen in den USA gemacht - weil sich darin die Solidarität der Bürger und nicht nur die der Regierungen zeigte.

Mehrere prominente Europäer, von Jacques Chirac bis Joschka Fischer, haben den Tatort besucht, haben sich die erschütternden Bilder angeschaut, was vom World Trade Center und seiner Umgebung übrig geblieben ist. Und haben ihre Unterstützung bekräftigt. Trotzdem fürchten wohl noch immer viele Europäer, die USA könnten nun eine gewaltige Welle von Nationalismus erleben, George W. Bush werde zu einem zweiten Ronald Reagan, der im Kampf gegen das Böse versucht ist, leichtfertig Atombomben auf Afghanistan zu schmeißen.

Das illustriert jedoch nur, wie wenig Europäer, die so denken, von Amerika verstehen. Es wäre eine viel größere Gefahr, wenn sich herausstellen sollte, dass Bush kein Reagan ist. Reagan hasste den Krieg, hatte die Lehren aus Vietnam gelernt, ging sehr behutsam mit dem Militär um, kämpfte für eine drastische Reduzierung der Atomwaffen und umarmte Michail Gorbatschow. Es ist eine Legende, dass die Amerikaner auf den Terror von New York besonders kriegslüstern reagieren. Sie haben genauso Angst vor der sich anbahnenden Militäraktion und ihren unabsehbaren Folgen wie die Europäer. Auch ihre Soldaten wollen nicht sterben.

Seit Vietnam sind die USA nicht immer amerikanischer, sondern, im Gegenteil, immer europäischer geworden. Auch in Amerika hat sich eine Spaßgesellschaft entwickelt, die gerne Ferien macht, die Kaffeehäuser und schöne Restaurants zu schätzen weiß und Konflikten lieber aus dem Weg geht. Die viel beschworene Mentalität des Cowboys, der aus der Hüfte schießt, ist ein Zerrbild.

Viele Amerikaner fürchten, dass sie ihren schönen europäischen Lebensstil jetzt wieder umstellen müssen. Und sie trauern darum. Die Anti-Terror-Maßnahmen werden den Alltag ebenso verändern wie der Einbruch der Weltwirtschaft. Die Wahrheit ist, dass auch die USA höchst ungern Kriege führen - ob nun Erster Weltkrieg, in den sie erst 1917 eingriffen, ob Zweiter Weltkrieg mit dem Versprechen an die eigene Bevökerung, die US-Truppen schnellstmöglich abzuziehen, was der Stalinismus verhinderte, ob Korea oder Vietnam. Amerikaner sehnen sich nach Ruhe und Frieden. Jeder Krieg hinterlässt Traumata.

Jetzt sind die USA gezwungen, sich gegen Terrorismus zu wehren. Dieser Kampf bedeutet das Ende der Spaßgesellschaft in Amerika. Ironie ist out. Terror-Filme ebenso. Demokraten und Republikaner stellen ihre Rivalitäten zurück. Ruhig, gelassen, aber voller Ernst betrachtet Präsident Bush die Lage. Es wird keine emotionalen Ausschreitungen der Propaganda geben, keine Welle der Wut und Rache, sondern ein hartes, rationales Abwägen. Die Bevölkerung ist darauf eingestellt. Auch das hat Amerika von Europa gelernt: Realpolitik.

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