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Gastbeitrag: Juden müssen in Berlin ohne Angst leben können

Antisemitismus ist nicht das Problem „der anderen“. Er ist unser eigenes Problem. Von rechts bis links, von Hartz-IV-Empfängern bis Professoren – antisemitische Ressentiments gibt es überall.

Alle sprechen dieser Tage über Rabbiner Daniel Alter, kaum jemand über seine kleine Tochter. Das siebenjährige Mädchen musste auf offener Straße mit ansehen, wie ihr Vater gepeinigt und geschlagen wurde. Wenn wir über den Vorfall in der Beckerstraße in Berlin-Friedenau sprechen, müssen wir auch über sie sprechen. Und wir müssen uns fragen: Wie gewinnen wir das verlorene Vertrauen eines jungen jüdischen Menschen wieder?

Seit nunmehr fast 25 Jahren zieht unsere Hauptstadt wieder jüdische Menschen an. Für mehr als 200.000 Juden aus der Sowjetunion ist Deutschland ein neues Zuhause geworden. Hinzu kommen Tausende Israelis, Amerikaner und viele anderen Jüdinnen und Juden aus der ganzen Welt. Hier leben sie, hier wachsen ihre Kinder auf, hier heiraten sie, hier lassen sie ihre Söhne beschneiden. Langsam aber sicher entsteht selbstverständliches jüdisches Leben in Berlin. Das ist ein Vertrauensbeweis für unsere Gesellschaft. Und ein Vertrauensvorschuss.

Bettina Jarasch
Bettina Jarasch

© dapd

Wir, Berlinerinnen und Berliner, müssen nun diesen Vorschuss einlösen. Die Kernfrage dabei ist, ob Menschen hier ihren Glauben offen und ohne Angst leben können. Dazu müssen wir endlich verstehen, dass Antisemitismus nicht das Problem „der anderen“ ist, der Migranten und der Neonazis. Er ist unser eigenes Problem. Von rechts bis links, von Hartz-IV-Empfängern bis Professoren – antisemitische Ressentiments gibt es überall. Wer sich heute eifrig auf die „muslimischen“ Migranten stürzt und ein „Migrantenproblem“ wittert, soll öfter in den Spiegel schauen. Zu oft ist unsere Gesellschaft in den letzten Jahren zur Schaubühne offener oder latenter antijüdischer Ressentiments geworden. Bekannte Schriftsteller verbreiten Anti-Israel-Fantasien in führenden deutschen Zeitungen, Ärzte und Juristen empfehlen Jüdinnen und Juden, ihre „archaischen Bräuche“ abzulegen und sich endlich „zu integrieren“.

Bilder: Die Debatte um religiöse Beschneidungen

Jüngstes Beispiel ist die aktuelle Diskussion nach dem Kölner Beschneidungsurteil. Sie löste solch eine Flut von antijüdischen Reaktionen aus, dass viele Juden sie als Beleg für einen wachsenden Antisemitismus sehen. Deshalb wäre diese Debatte auch eine Chance für die deutsche Gesellschaft, zu zeigen, wie belastbar unser deutsch-jüdisches Verhältnis geworden ist. Es geht nicht darum, sich kollektiv als Beschneidungsfans zu bekennen. Im Gegenteil, wir wollen und müssen über die Pros und Kontras von Beschneidungen diskutieren und verschiedene Grundrechte gegeneinander abwägen. Aber entscheidend ist, in welchem Tonfall und mit welcher Haltung wir diese Debatte führen.

Zahlreiche Beiträge, die in Wahrheit auf alle Religionen abzielen, kommen in diesem Kontext antisemitisch und antimuslimisch daher. Es gibt manch einen Politaktivisten, für den der Kampf für Kinderrechte ein willkommener Anlass ist, Juden eins auszuwischen. Justizsenator Heilmann hat es mit seinem Vorstoß zur Straffreiheit von regulierten Beschneidungen sicher gut gemeint. Die jüdischen und muslimischen Repräsentanten in Berlin hat er dabei offenbar nicht einbezogen und so viel Porzellan zerschlagen.

Darüber hinaus brauchen wir nach der Attacke arabischstämmiger Jugendlicher auf Rabbiner Alter eine Bestandsaufnahme unseres multikulturellen Zusammenlebens. Dabei muss uns bewusst sein: Der Judenhass dieser Jugendlichen ist – auch wenn er sich durch Familiengeschichten und ausländische Medien speist – unser kollektives Problem, und er hat viel mit dem Versagen unserer Bildungs- und Integrationspolitik zu tun.

Wir sind dankbar für die vielen pädagogische Bildungsinitiativen gegen Antisemitismus. Ihre Bemühungen laufen aber ins Leere, solange wir nicht verstehen, dass die antisemitisch pöbelnden Jugendlichen in Neukölln genauso ein Symptom unseres gemeinsamen Versagens sind, wie es neonazistische Übergriffe in Lichtenberg oder Friedrichshain sind. Wir haben noch viel Arbeit vor uns. Also Ärmel hoch, damit die Tochter von Rabbiner Alter weiß, dass sie auf dieses Land zählen kann.

Bettina Jarasch ist die Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen in Berlin. Sergey Lagodinsky ist Mitglied der Repräsentanz und Vorsitzender des Kulturausschusses der jüdischen Gemeinde zu Berlin.

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