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Ein Mann wird nach seinem Protest gegen die Teilmobilmachung in Moskau festgenommen.

© AFP / ALEXANDER NEMENOV

Bestimmte Berufe werden nicht eingezogen: Kreml redet von „Hysterie“ nach Teilmobilmachung – bessert aber nach

Seit der Bekanntgabe der Maßnahme versuchen russische Männer im wehrfähigen Alter vermehrt das Land zu verlassen. Für Reservisten besteht eigentlich ein Ausreiseverbot.

Nach dem Befehl von Kremlchef Wladimir Putin zur Teilmobilmachung für den Krieg in der Ukraine hat die Führung in Moskau „Hysterie“ im Land beklagt. 

Zugleich schloss sie Reservisten mit bestimmten Berufen von der Zwangsrekrutierung aus. So würden etwa IT-Spezialisten, Experten zur Sicherung des Finanzsystems oder auch Mitarbeiter der Massenmedien, die zu den „systemerhaltenden“ Berufen gehörten, nicht eingezogen, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau am Freitag mit.

Angesichts der Einberufung von Reservisten für den Krieg in der Ukraine verließen Tausende Männer fluchtartig das Land. Der Exodus gilt als Gefahr auch für die russische Wirtschaft. Schon nach dem von Putin angeordneten Einmarsch in die Ukraine im Februar hatten Zehntausende Menschen das Land verlassen. 

Kremlsprecher Dmitri Peskow forderte dazu auf, sich ausreichend zu informieren. „Es lässt sich irgendwie verstehen, dass es in den ersten Stunden nach der Bekanntgabe und auch noch am ersten Tag eine hysterische, äußerst emotionale Reaktion gegeben hat, weil es tatsächlich unzureichende Informationen gab“, sagte Peskow. Inzwischen aber gebe es auch Hotlines, um telefonisch Fragen zu klären.

Der Chef des Verteidigungsausschusses im russischen Parlament, Andrej Kartapolow, erklärte mit Blick auf die Flucht, dass zwar nach dem Gesetz zur Mobilmachung ein Ausreiseverbot für Reservisten bestehe. Weil es sich aber um eine Teilmobilmachung handelt, werde das Gesetz nicht angewendet. Reisen innerhalb Russlands und ins Ausland seien deshalb erlaubt. Er empfahl aber Reservisten, die unsicher sind, sich selbst an der Einberufungsstelle einzufinden, um zu klären, was erlaubt ist und was nicht.

Beschwerden über chaotische Mobilmachung in Russland werden lauter

Die russische Mobilmachung sorgt nun auch bei Anhängern von Präsident Wladimir Putin zunehmend für Kritik. Die Chefredakteurin des Staatssenders RT, Margarita Simonyan, wetterte auf ihrem Telegram-Kanal gegen das chaotische Vorgehen der Behörden.

„Es wurde bekanntgegeben, dass Gefreite bis zum Alter von 35 Jahren rekrutiert werden können. Die Vorladungen gehen an 40-Jährige“, erklärte Simonyan. „Sie machen die Leute wütend, als ob sie das absichtlich tun, als ob sie es aus Bosheit tun. Als ob sie von Kiew geschickt worden wären.“

Seit Beginn des russischen Einmarschs in der Ukraine vor sieben Monaten war kaum Kritik von kremlfreundlicher Seite zu hören. Doch Simonyan ist nicht allein. Am Samstag erklärte der Vorsitzende des Kreml-Menschenrechtsrates, Waleri Fadejew, dass er Verteidigungsminister Sergej Schoigu schriftlich aufgefordert habe, Probleme mit der Mobilisierung „dringend zu lösen“.

In einem Beitrag auf Telegram kritisierte er die Art und Weise, wie Ausnahmeregelungen angewandt wurden. Er verwies auf mehrere Fälle von unangemessener Einberufung, darunter Krankenschwestern und Hebammen ohne militärische Erfahrung. „Einige (Rekrutierer) händigen die Einberufungspapiere um zwei Uhr morgens aus, als hielten sie uns alle für Wehrdienstverweigerer.“

Es werden Menschen ohne militärische Erfahrung einberufen

In den vergangenen Tagen gab es aus verschiedenen Teilen Russlands Berichte über Männer, die Einberufungsbefehle erhalten haben, obwohl sie keine militärische Erfahrung oder das Einberufungsalter überschritten haben. In einem weiteren seltenen öffentlichen Zeichen von Unruhe an der Spitze teilte das russische Verteidigungsministerium am Samstag mit, dass der für Logistik zuständige Vize-Verteidigungsminister Dmitri Bulgakow ersetzt worden sei.

Russland zählt offiziell Millionen ehemaliger Wehrpflichtiger als Reservisten - potenziell fast die gesamte männliche Bevölkerung im kampffähigen Alter. Der Erlass vom Mittwoch, mit dem die „Teilmobilmachung“ angekündigt wurde, enthielt keine Kriterien dafür, wer einberufen wird. Offiziellen Angaben zufolge werden 300.000 Soldaten benötigt, wobei Personen mit aktueller militärischer Erfahrung und wichtigen Fähigkeiten Vorrang hätten.

Das russische Präsidialamt hat Berichte zweier im Ausland ansässiger Medien dementiert, wonach eine verheimlichte Klausel im russischen Mobilisierungsdekret die Einberufung von mehr als einer Million Reservisten vorsieht.

Seit der Ankündigung der ersten Mobilmachung in Russland seit dem Zweiten Weltkrieg versuchen zahlreiche russische Männer einer Einberufung durch eine Flucht ins Ausland zu entgehen. An den Grenzen zur Mongolei, Kasachstan, Finnland oder Georgien haben sich zeitweise lange Schlangen gebildet. (dpa/Reuters)

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