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Nach einem russischen Raketenangriff stehen in Kiew Autos in Flammen (Symbolbild).

© REUTERS/Valentyn Ogirenko

Die neue Taktik der Russen: „Wiederaufnahme einer strategischen Bombardierung der Ukraine“

Russland verstärkt die Luftangriffe auf die Ukraine. Iranische Drohnen könnten in Zukunft eine wichtige Rolle dabei spielen.

Russland weitet seine Raketen- und Drohnenangriffe auf die Ukraine wieder aus. Beobachter zählten mehr als 100 Attacken alleine in den ersten zwei Tagen dieser Woche.

„In Moskau kursieren Gerüchte über die Wiederaufnahme einer strategischen Bombardierung der Ukraine“, sagte Militärexperte Gustav Gressel am Mittwoch in einem Podcast des europäischen Think-Tanks ECFR. Die Angriffe begannen nur zwei Tage nach der verheerenden Explosion auf der russischen Krim-Brücke.

„Diese Anschläge kamen zum einen als Antwort auf die seit Wochen erfolgreiche Gegenoffensive der Ukraine“, sagte die Politikwissenschaftlerin Gwendolyn Sasse im ARD-Morgenmagazin“ am Dienstag. „Es soll aber vor allem die Zivilbevölkerung verunsichern und demoralisieren“ – wie schon zu Beginn des Angriffskrieges im Februar.

Im ganzen Land wurden Einschläge gemeldet. Rund zwei Dutzend Zivilisten kamen ums Leben, mehr als 100 sollen verletzt worden sein. Hauptziel der russischen Armee ist laut Berichten das Energienetz der Ukraine.

Der ukrainische Energieminister German Galushchenko erklärte am Dienstag gegenüber dem Nachrichtensender CNN, dass seit Montag etwa 30 Prozent der Energieinfrastruktur des Landes von russischen Raketen getroffen worden seien. Es sei das „erste Mal seit Beginn des Krieges“ gewesen, dass Russland die Energieinfrastruktur so „dramatisch ins Visier genommen“ habe.

Die meisten Städte und Dörfer hätten aber bereits am gleichen Tag wieder Strom gehabt, versicherte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Die Energieversorger hätten sich daran gewöhnt Reparaturen schnell durchzuführen, schreibt CNN. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Firmen die Strom- und Wärmeversorgung unter anhaltenden Angriffen im Winter auch aufrecht erhalten können. Einzelne Städte – wie Isjum im Osten der Ukraine – sollen seit September ohne Gas, Strom und fließendes Wasser sein, berichtet die Nachrichtenagentur dpa.

Gleichzeitig seien die Angriffe auch als Botschaft an die Ukraine, aber vor allem an das eigene Volk und die russische Elite zu verstehen, erklärte Militärexperte Gressel. Sie laute: „Putin ist stark und bereit, den Konflikt weiter zu eskalieren.“

Wie lange kann Russland die Bombardements aufrechterhalten?

Gressel geht davon aus, dass Russland allein am Montag mehr als 80 Raketen und Drohnen gestartet hat, am Dienstag seien es noch 30 Marschflugkörper und 20 Drohnen gewesen. Ukrainische Offizielle nannten CNN eine Gesamtzahl von 112 Marschflugkörpern an beiden Tagen – Drohnen nicht mitgerechnet.

Militärexperte Gustav Gressel merkte zwar an, dass die „ukrainische Luftabwehr eine beträchtliche Anzahl“ der Geschosse eliminiert habe, trotzdem fanden noch rund die Hälfte der Raketen und Drohnen ihr Ziel. Die russische Taktik scheint einfach aber effizient: Die ukrainische Luftabwehr kann nicht alle Objekte zerstören. Eine gewisse Anzahl an Raketen und Drohnen wird es immer schaffen, ihre Ziele zu erreichen – und zu zerstören.

Das Pentagon ging im Sommer davon aus, dass Russland weiterhin mehr als 50 Prozent seiner Lagerbestände an Marschflugkörpern zur Verfügung stünden, berichtet CNN. In jüngerer Vergangenheit hätte Putins Armee aber häufig ältere und weniger präzise Munition eingesetzt, was für eine Verknappung der Ressourcen spräche, merkt Gressel an.

Russland habe bisher mehr als 2000 Präzisionsraketen auf die Ukraine abgefeuert, so der Militärexperte. Das übersteige die Jahresproduktion dieser Waffengattung deutlich. Jährlich würden nur etwa 100 Präzisionswaffen in Russland hergestellt, rechnet Gressel vor. Die Sanktionen gegen das Land erschweren die Produktion zusätzlich.

Russland soll Hunderte Kamikaze-Drohnen bestellt haben

Russland muss sich also anderweitig mit Waffensystemen versorgen, auch hier sind die Sanktionen hinderlich. Entweder ist der Handel mit Munition oder Bauteilen verboten, oder Drittstaaten fürchten selbst Sanktionen, wenn sie Russland unterstützen.

Nicht so Iran: Medienberichten zufolge hat die islamische Republik der russischen Armee bereits im August mehrere Kampfdrohnen geliefert. Beide Länder halten sich zu dem mutmaßlichen Geschäft bedeckt. Erste Beweise, dass Russland tatsächlich iranische Drohnen einsetzt, veröffentlichten ukrainische Militärs Mitte September.

Damals hätten Putins Truppen mit Kamikaze-Drohnen des iranischen Typs Shahed-136 mehrere Angriffe in der nordostukrainischen Regio Charkiw durchgeführt. Der Drohnentyp schlägt meist paarweise in das gleiche Ziel ein. Da sie relativ klein sind und niedrig fliegen, seien die ausländischen Drohnen schwer mit den ukrainischen Luftabwehrsystemen aufzuspüren, so ein ukrainischer Kommandeur im „Wall Street Journal“. 

Laut Selenskyj habe Russland 2400 Shahed-136-Drohnen aus dem Mullahstaat geordert. Anfang der Woche habe er „alle zehn Minuten eine Nachricht über den Einsatz von iranischen Shaheds durch den Feind erhalten“. Mit einem Stückpreis von 20.000 US-Dollar sei der Einsatz der unbemannten Flugkörper deutlich billiger als der von präzisen Raketen, so Gressel.

Der Nachteil dieser Kamikaze-Drohnen sei aber, dass sie aus einer deutlich kürzeren Distanz auf ihre Ziele abgefeuert werden müssen als die fortschrittlicheren Marschflugkörper. Dieser Punkt sei aber eingepreist, sagt der Militärexperte. „Wenn etwas schief geht, wen kümmert das schon.“

Seit Langem bittet die Ukraine ihre westlichen Verbündeten nun schon um Flugabwehrsysteme gegen feindliche Marschflugkörper und Drohnen. Diese Woche bestätigte der ukrainische Verteidigungsminister den Erhalt eines Flugabwehrsystem Iris-T aus Deutschland – drei weitere dieser Systeme sollen folgen. Auch andere Länder sagten weitere Hilfe für die Luftverteidigung zu.

Bisher standen der Ukraine etwa 40 Systeme aus sowjetischer Produktion zur Verfügung, erklärte Militärexperte Gressel die Situation der ukrainischen Luftverteidigung im ECFR-Podcast. „Pro Einheit kann ein Ziel geschützt werden.“ Für Großstädte wie Kiew benötige man mehr als ein System.

Zudem stehe der ukrainischen Luftverteidigung nur eine begrenzte Anzahl an Munition zur Verfügung. Es bestehe die Gefahr, dass der Nachschub „austrocknet“, so Gressel. Auch für das neue Iris-T-System steht der Ukraine keine unbegrenzte Anzahl an Munition zur Verfügung, bemängelt die ukrainische Abgeordnete Halyna Yanchenko bei einem Auftritt in Berlin.

„Wir haben nur 48 Raketen bekommen“, berichtet die Abgeordnete. Bei mehr als 100 Luftangriffen in zwei Tagen ist der Vorrat schnell aufgebraucht. (Tsp)

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