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Ehemaliger Oberrabbiner Moskaus im Interview: „Eine totale Katastrophe, sowohl für Russland als auch für die jüdischen Gemeinden“

Pinchas Goldschmidt lebte lange in Moskau. Ein Gespräch über den Krieg, seine Folgen und Michail Gorbatschow.

Oberrabbiner Goldschmidt, Sie lebten und arbeiteten seit 1989 in Moskau. Der Beginn ihrer Tätigkeit dort fiel also zusammen mit der Amtszeit von Michail Gorbatschow, zunächst als Generalsekretär der KPdSU und später als Präsident der Sowjetunion. Was sind Ihre Erinnerungen an diese Zeit?

Ich kam dort an mit meiner Frau und zwei kleinen Kindern, es war wie in einer anderen Welt. Die Menschen trugen altmodische Kleidung, es gab kaum etwas zu kaufen, eine Taxi-Fahrt konnte man mit ein paar Marlboro-Zigaretten bezahlen.

Erinnern Sie sich persönlich an Michail Gorbatschow?

Ich kam das erste Mal auf Einladung der sowjetischen Akademie der Wissenschaften nach Moskau. Dort war ein Zentrum für jüdische Kultur aufgebaut worden.

Gorbatschow traf ich zweimal. Das, was unter seiner Ägide passierte, der Zusammenbruch der Sowjetunion, war von ihm weder beabsichtigt noch geplant worden.

Gorbatschow wollte den Kommunismus durch Glasnost und Perestroika reformieren. Doch dann fiel das ganze System zusammen. Er war eine tragische Figur. Aber für Juden wehte mit ihm ein neuer Wind der Freiheit durch das System.

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Wie war damals die Lage der Juden in der Sowjetunion?

Goldschmidt: Mit meinem Vorgänger im Amt der Europäischen Rabbinerkonferenz, dem britischen Oberrabbiner Immanuel Jakobovits, war ich als Teil einer Rabbiner-Delegation dort, und zum ersten Mal in unseren Begegnungen wurden zwei zentrale Fragen der Religionsfreiheit thematisiert.

Erstens: Wie können Juden ihren Glauben leben, Synagogen bauen, ein Gemeindeleben haben, Hebräisch lernen und unterrichten? All das ging in der Sowjetunion nicht.

Zweitens: Welche Möglichkeiten haben Juden, wenn sie es wollen, auszuwandern? Das sind zwei Grundrechte, die Gorbatschow letztlich zugelassen hat: Das Recht zur Selbstbestimmung und das Recht zur Emigration.

Nun haben Sie, 33 Jahre später, Moskau und Russland verlassen, warum?

Ich bin am 23. Februar abends in einem Land zu Bett gegangen und am 24. Februar, mit Beginn des Krieges gegen die Ukraine, in einem anderen Land aufgewacht. In einem Land mit anderen Gesetzen, anderen Vorschriften, mit Massen-Repressionen, mit totaler Zensur. Wir wussten, dass jetzt auch die jüdischen Gemeinden unter Druck gesetzt würden, diesen fürchterlichen Krieg zu unterstützen.

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Aber das taten sie nicht.

Nach ein paar Tagen habe ich gesagt, wir müssen etwas tun, um die ukrainischen Flüchtlinge zu unterstützen. Meine Frau und ich haben dann gemeinsam mit der Europäischen Rabbinerkonferenz dafür gesorgt, die Hilfe für die Flüchtlinge zu koordinieren und sie finanziell zu unterstützen.

Seit der Zeit habe ich auch offiziell Position bezogen gegen den Krieg. Daraufhin war es für meine Familie und mich unmöglich, nach Russland zurückzukommen. Wir wollten nicht verhaftet werden.

Was bedeutet der Krieg für die Entwicklung Russlands?

Eine totale Katastrophe, sowohl für Russland als auch für die jüdischen Gemeinden. Ein großer Teil der Juden ist schon ausgereist, andere sitzen auf gepackten Koffern. Wir sind zurück in einer neuen Sowjetunion.

Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz Pinchas Goldschmidt

© Kai-Uwe Heinrich/Tagesspiegel

Sie selbst schweigen nicht zum Krieg in der Ukraine. Ist diese Haltung repräsentativ für die russischen Juden?

Ich erhalte viele Nachrichten von Juden in Russland, die mir sagen, dass es richtig ist, öffentlich Position zu beziehen. Ich verstehe, dass es für Juden, die dort noch leben, schwierig ist. Es ist vor allem gefährlich. Ich schätze, dass rund neunzig Prozent der Juden in Russland mich unterstützen.

[Lesen Sie auch: Hitlergruß vorm Adlon, Hass im Netz: „Juden denken: Wo steht der Koffer?“ (T+)]

Ist das nicht ein Teufelskreis? Je mehr Juden Russland verlassen, desto isolierter und ungeschützter sind die, die bleiben.

Die Gemeinden in Russland werden kleiner, und sie werden ärmer. Wir müssen alles dafür tun, um zumindest die Strukturen der Gemeinden zu erhalten, um später nicht wieder bei Null anfangen zu müssen.

Geht der Druck auf die in Russland lebenden Juden vor allem von der Regierung aus oder auch von der Bevölkerung?

Es gibt in Russland eine Art Graswurzel-Antisemitismus. Er ist vorhanden, wurde aber lange Zeit unterdrückt. Jetzt haben viele Juden Angst, dass er wieder aufkeimt. Es wäre nicht das erste Mal in der russischen Geschichte.

Vor 125 Jahren (1897) lud Theodor Herzl Juden aus aller Welt zum ersten Zionistenkongress nach Basel ein. Wegen antisemitischer Ausschreitungen und Pogrome in Russland emigrierten damals viele Juden. Zeigen die jüngsten Ereignisse erneut, wie wichtig die Gründung Israels war, um verfolgten Juden eine Heimstatt zu geben?

Die Notwendigkeit der Existenz Israels für alle Juden – ob sie in Israel leben oder außerhalb – ist absolut. Elie Wiesel, der Schriftsteller und Friedensnobelpreisträger, hat einmal gesagt: Juden können außerhalb Israels leben, aber sie können nicht ohne Israel leben.

Wäre heute wieder eine Situation wie vor 125 Jahren: Welches Land wäre bereit, die jüdischen Flüchtlinge und Emigranten aufzunehmen?

Sie sind maßgeblich verantwortlich für die historische Renaissance des russischen Judentums, haben Schulen, Kindergärten und Suppenküchen aufgebaut. Sehen Sie Ihr Lebenswerk als zerstört an?

Das Lebenswerk eines Rabbiners hat mehr mit Menschen zu tun als mit Gebäuden. Die Zehntausende, mit denen ich in den vergangenen 33 Jahren in Moskau und Russland Kontakt hatte, ob in Schulen, Gemeinden oder Küchen für Arme, sie tragen das Judentum weiter, bewahren die Religion über die Zeiten hinweg – ob sie nun in Moskau leben oder in Israel, Deutschland oder in den USA.

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Die Kontakte zu diesen Menschen bestehen nach wie vor. Es sind nicht die Ziegel in den Mauern der Gebäude, die eine Gemeinde erschaffen, sondern es sind die Menschen.

Sie haben in Moskau die längste Zeit Ihres Lebens verbracht. Haben Sie Heimweh nach der Stadt und Ihrer Gemeinde?

Moskau ist eine wunderschöne Stadt mit vielen wunderbaren, intelligenten und warmherzigen Menschen. Das gilt für Juden wie für Nicht-Juden. Ich hoffe, dass wir, mit Gottes Hilfe, eines Tages zurückkehren können.

Krieg in der Ukraine

© David Ryder/ZUMA Press Wire/dpa

Wie ist das Verhältnis von russischen zu ukrainischen Juden?

Im letzten halben Jahr sind rund 15.000 Juden aus der Ukraine und 25.000 Juden aus Russland nach Israel ausgewandert. Wir helfen einander, wo wir können. Die Politik der Regierungen in Kiew und Moskau beeinflusst unsere Verbundenheit nicht.

Sie engagieren sich nicht nur in Russland, sondern auch in Europa für die Religionsfreiheit. Wie stark ist diese Freiheit gefährdet?

In Europa gerät diese Freiheit zunehmend unter Druck, denken sie nur an die Diskussionen über Schächt- oder Beschneidungsverbote. Ob in Island, Belgien oder Finnland. In Deutschland endete die Beschneidungsverbotsdebatte zum Glück durch die Unterstützung der ehemaligen Bundeskanzlerin, Angela Merkel.

Was erklärt die Angriffe auf die freie Religionsausübung?

Das Infragestellen von Religionsfreiheiten ist ein Kollateralschaden des um sich greifenden Populismus. Der Krieg in der Ukraine sollte den Menschen die Augen dafür öffnen, wie wichtig solche Freiheiten in einem geeinten Europa sind.

Es darf kein Zurück geben zu 1914, 1939. Wenn Europa als Zivilisation überleben will, muss es die Bewahrung der Religionsfreiheit als essenziell betrachten.

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