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Das Logo des neuen European-Focus-Newsletters

© Tagesspiegel / European Focus

European Focus #1: Wir sitzen alle in einem Boot

Lesen Sie hier die erste Ausgabe des neuen europäischen Newletters auf deutsch.

Hi, und willkommen zur ersten Ausgabe von „European Focus“,

haben Sie sich jemals gefragt, warum es für Sie persönlich ein Problem ist, dass die europäische Öffentlichkeit so gering ausgeprägt ist?

„Man muss kein naiver europäischer Enthusiast sein, um diese Frage zu stellen,“ sagte unser polnischer Kollege in unserer ersten wöchentlichen europäischen Redaktionskonferenz, die am Anfang dieser Ausgabe stand.

Und hat er etwa nicht recht? Russland aggressiver Krieg gegen die Ukraine, der Aufstieg rechtsgerichteter Populisten in Europa, die schnelle Ausbreitung von Verschwörungstheorien zu Corona, der Klimanotstand und die Energiekrise sind nur ein paar Beispiele, die zeigen, dass unseren europäischen Gesellschaften große Herausforderungen und Gefahren bevorstehen, die die Grenzen überschreiten.

Inzwischen sollte allen klar sein: Wir sitzen alle in einem Boot.

Das ist der Grund dafür, dass wir alle, auch europäische Journalisten und Medien, neue Gewohnheiten entwickeln müssen: Wir müssen unsere nationalen Blasen verlassen und beginnen, unsere gemeinsamen Themen und Probleme gemeinsam zu diskutieren, statt über die „anderen“ zu reden.

Mit dem „European Focus“ versuchen wir, jede Woche ein kleines europäisches Fenster in Ihrem Maileingang zu öffnen, mit fünf kurzen Stücken von unseren unterschiedlichen Kooperationspartnern und einem rotierenden Chefredakteur.

Danke, dass Sie uns bei diesem Experiment begleiten, und verbreiten Sie es weiter!

Christian Zsolt-Varga, Chefredakteur dieser Ausgabe

Melonis Verbündete: In Italien führt wohl bald eine rechtsextreme Politikerin die Regierung.

In Italien übernimmt bald die wohl rechteste Politikerin seit Mussolini die Regierung. In allen EU-Hauptstädten feiert die extreme Rechte. Wäre die öffentliche Debatte ausgereifter, hätten wir nicht nur Giorgia Melonis Sieg voraussehen, sondern auch ihre Taktiken verstehen können. Hätten wir zum Beispiel genauer nach Budapest geschaut, hätten wir festgestellt, dass die Hochburg der „illiberalen Demokratie“ als Anknüpfungspunkt für die europäische Rechte dient.

Erik Tegnér, rechte Hand des französischen Präsidentschaftskandidaten Éric Zemmour, war Gastwissenschaftler am Viktor Orbán nahestehenden Danube Institute. Gleiches gilt für die ungarische Staatspräsidentin Katalin Novák, die zuvor gemeinsam mit Lorenzo Fontana von der rechten Lega in Italien die „traditionelle Familie“ beschwor. Francesco Giubilei, ein junger Ideologe in Melonis „konservativer Wende“, hat ebenfalls Verbindungen zu Pro-Orbán Think Tanks.In Rom nutzten die Fratelli d’Italia von Meloni ihren Wahlkampf für Attacken gegen das erste gleichgeschlechtliche Paar in der Kindersendung Peppa Wutz.

Das ist kein Zufall. In Ungarn werden Zeichentrickserien im Rahmen der Anti- LGBT-Gesetzgebung an die Medienbehörde gemeldet. Orbán begann seine neue Amtszeit mit der Erklärung, dass „Gender das große Problem Europas“ sei. Je besser die Europäerinnen und Europäer verstehen, wie die extreme Rechte in anderen Ländern Identitätspolitik betreibt, desto besser können sie solchen Taktiken etwas entgegnen.

Kurz vor der Wahl in Italien sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, man habe „Instrumente“ gegen Länder mit einen illiberalen Kurs. Die Voraussetzung für eine starke europäische Demokratie ist aber eine echte demokratische Debatte – und die beginnt an der Basis. Diese kann jedoch nicht nur in den sozialen Medien stattfinden. Das Budget von Mark Zuckerbergs Meta für Lobbyarbeit in Brüssel beläuft sich auf sechs Millionen Euro. Dagegen ist eine wichtige Interessengruppe unterrepräsentiert: die europäische Öffentlichkeit und ihre Meinung. Um eine solche Öffentlichkeit aufzubauen, sollten wir bei uns selbst anfangen.

Francesca de Benedetti, Domani, Rom

Unfreiwillig sowjetisch

Ob in der „New York Times“, im „Wall Street Journal“ oder westeuropäischen Medien – ein überholter Begriff hält sich hartnäckig und beständig: Die baltischen Staaten werden gerne als „ehemalige Sowjetrepubliken“ bezeichnet. Dabei ist es vollkommen gleich, ob der jeweilige Beitrag Wirtschaft, Digitalisierung, Tourismus oder Russlands anhaltenden Angriffskrieg gegen die Ukraine zum Thema hat.

Vor diesem Hintergrund ging ein Tweet des estnischen Politikers Eerik-Niiles Kross Anfang des Monats viral. Er kritisierte, dass mit dem Hinweis „ehemalige Sowjetrepubliken“ eine Stigmatisierung einhergehe. Das Mitglied der liberalen Reformpartei postete dazu einen sarkastischen Leitfaden, wie andere Länder der Welt folgerichtig bezeichnet werden sollten: Deutschland als „ehemaliger Nazistaat“, die USA als „ehemalige britische Kolonie“ oder Italien als „ehemaliger faschistischer Staat“.

Wir in Estland versuchen, es mit Humor zu nehmen. Tatsächlich zeigt sich aber die Oberflächlichkeit und Ignoranz vieler großer Medien und ihrer Redakteure. Zur Erinnerung: Diese „ehemaligen Sowjetrepubliken“ hatten nie zugestimmt, Teil der Sowjetunion zu sein. Sie wurden gewaltsam dazu gezwungen. Was wir heute sind und was wir heute tun, hat wenig bis gar nichts mit unserem sowjetischen Erbe zu tun.

Holger Roonemaa, Delfi, Estland

Orbáns Monopol

Eine Stunde nachdem Wladimir Putin die Mobilisierung von 300.000 Reservisten angeordnet hatte, meldete sich Ungarns Premier Viktor Orbán per Facebook zu Wort – nicht, um seine Besorgnis über eine potenziell noch gefährlichere Phase des Krieges in der Ukraine auszudrücken, sondern um den Zeigefinger gen Westen zu erheben. „Die Energiepreise steigen wegen der verfehlten Sanktionen aus Brüssel,“ schrieb er.

Dass Orbán sich auf Russlands Seite schlägt und eine entschlossene europäische Reaktion untergräbt, ist nicht nur eine innenpolitische Angelegenheit Ungarns. Die entscheidende Frage für Europa ist, ob der russische Imperialismus gestoppt werden kann. Falsche Narrative können Putin zum Sieg verhelfen. Tatsächlich sucht Orbán einen Sündenbock für seine eigenen Fehlschläge: die Wirtschaftsmisere, die Schwäche des Forint, die steigende Staatsverschuldung, die hohe Inflation. Deshalb rügt er die EU-Sanktionen und schweigt sich über die russische Bedrohung aus.

Sein wichtigstes Werkzeug ist die ungarische Sprache, mit der er eine abgeschottete Realität für seine Landsleute aufbaut. Der Schlüssel ist die Kontrolle über die Presse. Im Ungarischen wiegt Orbáns Wort tausend Mal schwerer als jedes andere. Nur wenige Menschen im Land sind in der Lage, abweichende Meinungen auf Englisch, Deutsch, Französisch oder gar Ukrainisch zu hören und zu lesen. Orbán hat somit ein Monopol auf das Storytelling über vom Ausland ausgehende Gefahren, vor denen – so seine Erzählung – nur er die Ungarn bewahren kann.

Es gibt noch einen freien Teil der ungarischen Presse, der versucht, unterschiedliche Seiten und Ansichten wiederzugeben. Doch ihre Wirkung und Reichweite werden durch das System begrenzt. Durch unfaire Steuern, Gesetze und die Macht der Oligarchen werden die (noch) freien Medien in eine Ecke gedrängt, sodass sie bestimmte Regionen des Landes nicht mehr erreichen können. Das Schicksal Europas hängt auch davon ab, wie viel die Menschen in Ungarn von der Außenwelt wahrnehmen – und davon, welche Schlüsse die Bürgerinnen und Bürger Europas angesichts der ungarischen Autokratie ziehen.

Márton Gergely, Chefredakteur von HVG, Budapest

Zahl der Woche: 3,6 Prozent

Im Zeitraum von 2015 bis 2020 machten EU-spezifische Themen nur 3,6 Prozent der Fernsehnachrichten in Frankreich aus. Das geht aus einer aktuellen Studie des französischen Think-Tanks Jean Jaurès hervor. Im Vergleich dazu lag der EU-Durchschnitt im Jahr 2018 bei 13 Prozent. Die Werte für Frankreich sinken noch weiter auf 2,5 Prozent, wenn man den französisch-deutschen öffentlichrechtlichen Sender Arte herausrechnet. Dieser war 1991 mit dem Ziel entstanden, „weltoffene und neugierige Bürgerinnen und Bürger in Europa, insbesondere in Frankreich und Deutschland, anzusprechen“. Doch offenbar sind europäische Nachrichten und Debatten im französischen Fernsehprogramm mehr als drei Jahrzehnte später nach wie vor ein „Nischenthema“.

Léa Masseguin, Libération, Paris

Sündenböcke und Demokratieprobleme

Johannes Hillje ist Politikberater mit Schwerpunkt auf pan-europäischer Kommunikation sowie Autor des Buches „Plattform Europa“, in dem er seine Vision für einen lebendigen öffentlichen Diskurs in Europa entwickelt.

Herr Hillje, Sie kritisieren, dass der Raum für öffentliche Debatten in Europa meist noch auf nationaler Ebene gestaltet und verstanden wird. Warum?

Zwar wird in den jeweiligen nationalen Medien viel über EU-Themen berichtet, dies geschieht aber fast immer durch die nationale Brille. Häufig wird gefragt: Welchen Nutzen hat „unser“ Land von dieser oder jener Entscheidung? Aber nicht: Wie dient diese Entscheidung unserem gemeinsamen europäischen Interesse?

Welche Risiken und Probleme sehen Sie?

Das Ergebnis ist ein Demokratieproblem. Wir leben schließlich in einem gemeinsamen politischen System: Die Nationalstaaten haben relevante Entscheidungskompetenzen an die EU übertragen. Unsere gemeinsamen EU-Institutionen treffen Entscheidungen, die unser aller Leben täglich beeinflussen. Trotzdem haben wir keine gemeinsame öffentliche und demokratische Debatte, in der wir diese Entscheidungen gemeinsam diskutieren könnten. Außerdem nutzen die nationalen Regierungen die Abwesenheit einer paneuropäischen Debatte immer wieder für ein „blame game“, mit der Europäischen Union als Sündenbock.

Das heißt?

Die Verantwortung für unpopuläre Entscheidungen wird an Brüssel abgeschoben, während alles Gute angeblich aus der eigenen Hauptstadt kommt. Es gibt kaum jemanden, der diese stereotype Darstellung der Europäischen Union oder der anderen Mitgliedsstaaten korrigiert. So lässt sich leicht eine Anti-EUStimmung schüren. Zuletzt passierte das im Wahlkampf in Italien.

Was schlagen Sie vor?

Wir brauchen mehr gemeinsame Kommunikationsräume und europäische Massenmedien. Ich stelle mir einen großen Wurf vor: eine gemeinsame digitale europäische Kommunikationsplattform in öffentlicher Hand, die die Infrastruktur für einen gesamteuropäischen Diskurs nach demokratischen Regeln, also anders als bei Facebook und Co., zur Verfügung stellt.

Was soll eine solche Plattform leisten?

Diese Plattform sollte nicht nur Nachrichten zu europäischen und EU-Themen anbieten, sondern auch Unterhaltung und kulturelle Inhalte, die ein europäisches Gemeinschaftsgefühl fördern. Es sollte Talkshows mit europäischen Politikern sowie Serien geben, die Geschichten über das Zusammenleben in Europa erzählen, beispielsweise aus Grenzregionen, während eines Erasmus-Aufenthalts oder bei Interrailreisen. Dies könnte einen wirklich paneuropäischen Austausch ermöglichen, am besten auch mittels Übersetzungen durch künstliche Intelligenz oder Treffen in der Virtual Reality.

Das Gespräch führte Teresa Roelcke, Tagesspiegel, Berlin

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