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Unterricht in einer Sprachlernklasse mit ukrainischen Schüler:innen

© dpa/Friso Gentsch

Geflüchtete ukrainische Kinder an Schulen: Ausnahmezustand für das überlastete deutsche Bildungssystem

Mehr als 200.000 geflüchtete Kinder aus der Ukraine besuchen deutsche Schulen. Institutionen schlagen Alarm, viele der Bildungsstätten sind mit der Situation überfordert.

Unterrichtsausfall, zu viel Vertretungsunterricht, überforderte oder fehlende Lehrkräfte, Fächer, die kaum noch bedient werden können, wütende Eltern – alles Probleme, die an deutschen Schulen zum Alltag gehören, schon seit Jahren.

Ein dauerhafter Ausnahmezustand sozusagen, bis mit Beginn des Ukraine-Kriegs der echte Ausnahmezustand eintrat. Die Zahl der gemeldeten Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine in Deutschland ist inzwischen auf mehr als 200.000 gestiegen. Die meisten hat Nordrhein-Westfalen (38.151) aufgenommen, gefolgt von Bayern (29.405) und Baden-Württemberg (28.549). Zum Vergleich: Im September 2022 wurde die Zahl der Schüler:innen in Deutschland mit 10,8 Millionen angegeben.

Die Institutionen schlagen Alarm: Die Anforderungen an die Lehrkräfte seien enorm gewachsen, sagte Alexander Handschuh vom Deutschen Städte- und Gemeindebund dem Tagesspiegel. „Die ukrainischen Kinder haben einen sehr hohen Betreuungsbedarf, es fehlt an Fachkräften.“ In Kitas sei die Knappheit vielleicht noch größer, freie Plätze ohnehin rar. „Die Kommunen fürchten sich besonders vor Konkurrenzsituationen: Welches Kind soll den Vorrang bekommen, ein Kind aus der Ukraine oder ein einheimisches?“

200.000
geflüchtete Kinder aus der Ukraine besuchen inzwischen deutsche Schulen.

Man hoffe weiterhin auf eine möglichst schnelle Rückkehr der Kinder und Jugendlichen in ihre Heimat, müsse sich aber auch auf eine längerfristige Perspektive einstellen, sagte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) dem Tagesspiegel zu der Problematik. Der Bund habe die Länder im Jahr 2022 mit 3,5 Milliarden Euro unterstützt, auch im Bildungsbereich.

Für dieses Jahr seien weitere Unterstützungsleistungen von 1,5 Milliarden Euro für Geflüchtete aus der Ukraine zugesagt worden, fügte die Ministerin hinzu. „Kernproblem insgesamt ist der Lehrkräftemangel, bei dem jetzt dringend mehr passieren muss. Das ist zentrale Aufgabe der Länder.“

Gewerkschaften und Verbände fordern, dass Tacheles geredet wird: „Das Bildungssystem steht vor dem Kollaps“, meinte die Vorsitzende der Lehrer-Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Maike Finnern. Die zuständigen Ministerien müssten jetzt ihrer Verantwortung gerecht werden. Der Lehrkräfte- und Raummangel sei bereits vor dem Krieg ein Riesenproblem gewesen – und zwar ein hausgemachtes.

Das Bildungssystem steht vor dem Kollaps.

Maike Finnern, Vorsitzende der Lehrer-Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)

„Wir sind Experten in unseren Fächern, im Regelfall aber keine Dolmetscher für Ukrainisch oder Russisch oder Trauma-Experten, und unser Zeitkontingent gewährt es auch nicht, psychosoziale Unterstützung im Einzelfall zu leisten“, benannte Michael Schwägerl, Vorsitzender des Bayerischen Philologenverbands, den Kern des Problems.

Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, berichtete im Gespräch mit dem Tagesspiegel, dass das Sprachunterrichtsangebot für ukrainische Schüler:innen oft unzureichend sei, an Schulen in nicht geringer Zahl dennoch andere Unterrichtsangebote dafür gestrichen werden mussten.

Rund 40.000 Lehrkräfte zu wenig

Der Deutsche Lehrerverband schätzt, dass in Deutschland inzwischen rund 40.000 Lehrkräfte fehlen. Besonders stark scheint sich das in Sachsen auszuwirken: Der übergroße Teil der ukrainischen Schüler:innen werde in rein ukrainischen Klassen unterrichtet, sagte Ursula-Marlen Kruse, GEW-Vorsitzende im Freistaat, dem Tagesspiegel. „So etwas haben wir hier noch nie erlebt. Rein syrische Schulklassen wären unvorstellbar gewesen.“

Die ukrainischen Klassen behindern die Integration in einem großen Maße, die deutschen und ukrainischen Kinder kommen nicht zueinander.

Ursula-Marlen Kruse, GEW-Vorsitzende in Sachsen

Weil es einen enormen Mangel an Lehrkräften für Deutsch als Zweitsprache gebe, würden die Kinder von ukrainischen Lehrkräften unterrichtet, deren Anerkennungsverfahren nicht abgeschlossen ist, sagte Kruse. „Die ukrainischen Klassen behindern die Integration in einem großen Maße, die deutschen und ukrainischen Kinder kommen nicht zueinander, die Sprache wird kaum gelernt.“

Kruse befürchtet, dass aus der Sonderregelung eine Dauerregelung werden könnte. Ein weiterer Kritikpunkt der Lehrerin: Bei rund 3000 von etwa 12.700 ukrainischen Kindern werde die Schulpflicht nicht durchgesetzt. „Viele Familien glauben wohl, bald zurückkehren zu können, aber was, wenn das nicht möglich sein wird? Da muss gehandelt werden.“

Untermauert wird die Kritik durch eine Befragung der Bundesdirektorenkonferenz der Gymnasien (BDK) und des Deutschen Philologenverbandes unter 356 Gymnasialschulleitern in Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern und im Saarland. Nur die Hälfte der befragten Schulen, die ukrainische Kinder und Jugendliche aufgenommen hatten, bekam zusätzliches Personal für den Unterricht.

Eine Lehrerin begrüßt ukranische Schülerinnen mit kleinen Schultüten.
Die Aufnahme ukrainischer Schüler:innen ist selbstverständlich, aber sie bedeutet eine weitere Überlastung vieler Schulen.

© dpa/Waltraud Grubitzsch

An fast jeder fünften Schule mit ukrainischen Schülern stockten Lehrer in Teilzeit ihre Stunden auf, teils kehrten auch pensionierte Lehrer zurück. Die Mehrheit der Schulen (58 Prozent) hat auch keine Vorbereitungsklassen eingerichtet, die zusätzlich Deutschkenntnisse vermitteln.

„Wir kommen zunehmend an Grenzen“, sagte auch die schleswig-holsteinische Kultusministerin Karin Prien dem Tagesspiegel. „Die Herausforderung bleibt, geflüchtete sowie zugewanderte Schülerinnen und Schüler gleichberechtigt in das Schulsystem zu integrieren.“

Die Schulen fühlen sich bei der Personalsuche und vor allem in ihrer Verantwortung für die weitere Zukunft der Kinder oft allein gelassen.

Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Lehrerverbands

Der Bund werde das Problem mit dem Startchancenprogramm angehen, erklärte Nina Stahr, bildungspolitische Sprecherin der Grünen, auf Anfrage. „Wir müssen die Rahmenbedingungen und ganz grundsätzlich die Arbeitsbedingungen im Bildungsbereich deutlich verbessern.“ Dazu gehöre die Entlastung der Lehrkräfte von Verwaltungsaufgaben oder durch multiprofessionelle Teams und zusätzliche Sozialarbeiter:innen.

Für den Kitabereich würden die Erzieher:innen bereits mit dem Kitaqualitätsgesetz unterstützt, fügte Stahr hinzu. „Die Länder können vier Milliarden Euro vom Bund zum Beispiel für die Entlastung von Kitaleitungen durch die Einstellung von Verwaltungskräften, die Qualifikation von Fachkräften und die Sprachförderung nutzen.“

Heinz-Peter Meidinger vom Lehrerverband wirft der Politik Schönmalerei vor. Eine Integration in reguläre Schullaufbahnen bis Ende des Schuljahres hält er für unrealistisch. „Die Politik kann jetzt nicht einfach zusätzliche Lehrkräfte hervorzaubern. Wir erwarten aber, dass sie die Lage nicht schönredet und den Eindruck erweckt, dass alles super läuft.“ Mit der Bereitstellung von Mitteln sei nicht alles getan. „Die Schulen fühlen sich bei der Personalsuche und vor allem in ihrer Verantwortung für die weitere Zukunft der Kinder oft allein gelassen.“

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