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Politik: Wahlkampf ohne Wahl

In der Türkei wollen drei Parteien Abstimmung für ungültig erklären

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Tufan Algan ist über Nacht zum wichtigsten Mann in der Türkei geworden. Als der Leiter der Wahlkommission am Dienstagmorgen in Ankara zur Arbeit kam, wurde er von Reportern mit Fragen bestürmt. Der Richter Algan entscheidet im so genannten Hohen Wahlrat darüber, ob die Parlamentswahl vom vergangenen November annulliert wird. Bis zur Entscheidung werde noch Zeit vergehen, sagte Algan den Journalisten. Dennoch hat der Vorwahlkampf begonnen.

Algan nahm am Dienstag erste Anträge auf Wahl-Annullierung entgegen, die von einem pensionierten Soldaten und von drei Parteien eingereicht wurden. Anlass ist das Urteil des Obersten Berufungsgerichtes vom Montag, wonach die Kurdenpartei Dehap widerrechtlich an der November-Wahl teilgenommen hatte. Algans Wahlrat muss jetzt entscheiden, ob die Wahl deshalb wiederholt werden muss. Eine Annullierung des Urnengangs würde die Frage nach der Legitimation des derzeitigen Parlaments und der von ihm beschlossenen Reformen aufwerfen. Der Rat steht unter Druck – auch weil er vor der Wahl Bedenken der Generalstaatsanwaltschaft gegen die Dehap ignoriert hatte.

Die Absicht der Dehap, sich an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof zu wenden, könnte dem Wahlrat und der türkischen Politik einen Zeitgewinn einbringen. Denn wenn der Wahlrat jetzt die Wahl annulliert, die Dehap aber später in Straßburg ihren Prozess gegen die Türkei gewinnt, wäre ein vollständiges Chaos in Ankara die Folge. Insbesondere die Wirtschaft warnt vor einem neuen Wahlkampf und dem damit verbundenen politischen Stillstand. Denn die Alleinregierung der AK-Partei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat dem Land ein seit Jahrzehnten nicht mehr erlebtes Maß an innenpolitischer Stabilität gebracht. Doch seit dem Urteil gegen die Dehap gaben die Kurse an der Istanbuler Börse schon deutlich nach.

Ministerpräsident Tayyip Erdogan gab sich am Dienstag kämpferisch: „Wir sind für Neuwahlen bereit“, betonte der AKP-Chef. Sein Stellvertreter Saban Disli sagte allerdings, es sei „frustrierend“, dass die verspätete Gerichtsentscheidung „das Klima der Stabilität stört“. Seine Regierung habe eine Reihe Reformen verabschiedet, um die Voraussetzungen für einen EU-Beitritt zu schaffen. In einem so großen Land sei dies ein langwieriger Prozess. Große Furcht vor einem drohenden Machtverlust habe die AKP zwar nicht, sagte auch Disli, doch vergifte die Gerichtsentscheidung „die positive Atmosphäre im Land“. In der Tat könnte die AKP zurzeit nach Meinungsumfragen mit 42,2 Prozent der Stimmen rechnen – noch einmal fast acht Prozentpunkte mehr als im letzten November.

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