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Am 19. September wählt Potsdam einen neuen Oberbürgermeister. Sieben Männer und Frauen bewerben sich um das Amt. Was macht sie und ihre Politik aus? Was wollen sie in der Landeshauptstadt bewegen? Heute: MARIE LUISE VON HALEM Bündnis 9: Nomadin

Vor Jahrhunderten müssen die von Halems irgendwie eine Pechsträhne gehabt haben. „Mein Vater hat mir immer erzählt, wir haben unseren Besitz schon im Mittelalter versoffen und verspielt“, sagt Marie Luise von Halem und grinst.

Von Peer Straube

Vor Jahrhunderten müssen die von Halems irgendwie eine Pechsträhne gehabt haben. „Mein Vater hat mir immer erzählt, wir haben unseren Besitz schon im Mittelalter versoffen und verspielt“, sagt Marie Luise von Halem und grinst. Vielleicht wurde der blaublütigen Oberbürgermeisterkandidatin der Bündnisgrünen bereits damals das Nomadentum quasi in die Wiege gelegt. „Ich bin viel umgezogen in meinem Leben.“

Geboren in München, aufgewachsen in Bayern – die Eltern waren Flüchtlinge aus Ostdeutschland. Als Spross einer preußischen Beamtenfamilie, sagt von Halem, sei ihr immer vermittelt worden: „Wir gehören nicht dazu, wir sind Fremde in Bayern.“ Wer sich nicht heimisch fühlt, geht irgendwann. Marie Luise ging nach Island. Für Jahre. Sie studierte dort Skandinavistik und Germanistik, spricht fließend Isländisch. Für diese Sprache sei sie die einzige staatlich geprüfte Übersetzerin in Berlin und Brandenburg, sagt von Halem. Theaterstücke, Fernsehreportagen, auch Kinofilme hat sie vom Isländischen ins Deutsche übertragen. Romane nicht. „Das ist mir zu einseitig“, erklärt sie. Die Kreativität fehlt. Für die karge Vulkaninsel im Norden hat sie ein Faible. Irgendwie naheliegend für jemanden, dessen Geschlecht aus Friesland stammt. „Das habe ich mit dem Oberbürgermeister gemeinsam“, witzelt sie. Der Sozialdemokrat Jann Jakobs stammt bekanntlich aus dem friesischen Dörfchen Eilsum.

Die von Halems dagegen aus dem Oldenburger Raum. Und es sind Berühmtheiten darunter. Gerhard Anton von Halem etwa – geboren 1752, Schriftsteller, Jurist, Verwaltungsbeamter. Als Vertreter der Spätaufklärung korrespondierte er mit Koryphäen wie Christoph Martin Wieland und Gottfried August Bürger, schrieb den bedeutendsten „Wallenstein“ vor Schillers Stück, war persönlich mit Alexander von Humboldt bekannt. Ludwig van Beethoven komponierte gar ein Lied nach einem Gedicht von Halems.

Jahrhunderte später machte ein anderer von Halem von sich reden – Nikolaus Christoph, Marie Luises Großvater. Noch vor Stauffenberg plante er ein eigenes Attentat auf Adolf Hitler – wurde aber verraten und nach Inhaftierung in mehreren Konzentrationslagern 1944 in Brandenburg an der Havel aufgehängt. In Berlin sind der Halemweg und die gleichnamige U-Bahn-Station nach ihm benannt.

Als die Mauer fiel, zog es seine Enkelin Marie Luise gen Osten. Spannend war es dort „und wir wollten daran teilhaben“. Sie und ihr damaliger Mann hatten Verwandte in Berlin und Kleinmachnow, die Entscheidung für Potsdam „fiel ganz bewusst“. Doch sollte es noch sieben Jahre dauern. Die Geburt ihrer zwei Kinder kam dazwischen, dann wurde die Schwiegermutter krank.

Seit 1997 nun ist Potsdam Heimat, von Halem lebt mit ihren Kindern in der Brandenburger Vorstadt, nahe dem Park Sanssouci. Im Grünen, wie es sich für eine Grüne gehört. Aus demselben Grund fährt sie auch Fahrrad. Das Privatleben ist heilig, Zutritt zur Wohnung bekommen Journalisten nicht. Die Familie soll von ihrem Leben als Politikerin unbehelligt bleiben, das ist oberste Maxime.

Die Zeit mit der Familie ist ohnehin kostbar, denn viel hat Marie Luise von Halem nicht. Es ist Freitagvormittag, zwischen zwei Terminen holt sie ihre Tochter vom Bahnhof ab, die aus dem Ferienlager zurückkommt. 20 Minuten für einen gemeinsamen Kaffee, dann hetzt sie weiter in ihr Landtagsbüro. Zweimal täglich kraxelt sie den Brauhausberg mit dem Drahtesel hinauf. „Zum Joggen im Schlosspark komme ich ja meist nicht“, sagt sie schmunzelnd. Schnell trifft sie ein paar Absprachen mit ihrer Büromitarbeiterin. Ihre Arbeit als Landtagsabgeordnete nimmt sie voll in Anspruch: Parlamentarische Geschäftsführerin ist von Halem, außerdem Vize-Fraktionschefin. Bei nur fünf Mitgliedern ist die Arbeit stressig. „Wir müssen uns alles aufteilen.“ Ihr Mandat als Stadtverordnete hat sie vor allem deshalb niedergelegt. Sollte sie auf den Chefsessel im Rathaus gewählt werden, müsste natürlich die Arbeit im Landtag dran glauben.

Unumstritten ist von Halems Nominierung nicht, doch sie setzte sich letztlich gegen die mächtige Saskia Hüneke durch. Aus den internen Querelen der Potsdamer Grünen macht sie keinen Hehl. „Es gibt unterschiedliche Politikverständnisse“, sagt sie. Verwerflich sei das nicht, sondern normal für demokratische Auseinandersetzungen. „Ich finde es nicht nötig, dass alle Leute in einer Partei das Gleiche sagen.“

Von Halem ist in Potsdam angekommen, nirgendwo hat sie länger gelebt als hier. Die Stadt zu regieren ist ihr Ziel, vor allem weil sie ihr größtes Anliegen in der Stadtpolitik nicht ausreichend berücksichtigt sieht – den Klimaschutz. Falls sie gewählt wird, „würde ich als erstes das Maßnahmenpaket herausnehmen, das das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung, das PIK, erarbeitet hat“. Die Bündnisgrüne hält es für „geradezu fahrlässig“, dass das Klimaschutzkonzept „von der Verwaltung nicht ausreichend diskutiert wird“. Ihr ist bewusst, dass das viel Lobbyarbeit bedarf. „Wir müssen anders leben, anders wirtschaften, anders mobil sein“, mahnt sie. Viel zu viel Geld werde für den Autoverkehr ausgegeben, etwa für die Sanierung der Humboldtbrücke. „Wofür brauchen wir so eine dicke, fette Brücke?“, fragt von Halem provozierend. „Nur, damit sich die Autos am Ende wieder in ein neues Nadelöhr fädeln und im Stau stehen?“ Den Straßenbau-Topf würde sie als Oberbürgermeisterin zugunsten der Bildung schröpfen. „Wir brauchen eine ehrliche Debatte darüber, wofür die Mittel, die wir haben, ausgeben wollen“, findet von Halem. Um die Einnahmen zu steigern, würde sie auch unbequeme Entscheidungen treffen – und zum Beispiel die Parkgebühren „sehr viel höher machen“. Für das Problem, genügend bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, hat auch von Halem kein Patentrezept. „Das kostet so irrsinnig viel Geld, das ist wirklich schwierig.“ Man könne verdichten, kostengünstiges Bauland zur Verfügung stellen, auch Belegungsrechte kaufen – lösen werde man das Problem damit dennoch nicht, glaubt die Bündnisgrüne. Man komme nicht drum herum, richtig Geld auszugeben. Denn: „Ich finde es wichtig, dass Potsdam eine Stadt bleibt, die die soziale Durchmischung aufrecht erhält.“

„Bündnisgrüne denken jetzt für morgen“, das ist von Halems Leitspruch, mit dem sie auf ihrer Homepage wirbt. Mal die Perspektive wechseln, die Blickrichtung, das ist der 48-Jährigen wichtig. Auch privat. Wenn sie mal Zeit für sich hat geht sie ins Kino, ins Theater oder liest. „Ich bin nach Büchern geradezu süchtig“, bekennt sie, „ich fresse den Lesestoff förmlich in mich hinein“. Jedes Buch sei eine „Reise woanders hin“.

Eine Metapher fürs Leben ist ihr der Film „Alexis Sorbas“. Als der von Anthony Quinn verkörperten Titelfigur am Ende die gerade fertig gebaute Seilbahn „um die Ohren fliegt, halten alle einen Moment inne, erschrocken – und dann tanzen sie, denn das Leben geht weiter“.

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