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Kultur: Die Kehrseite der Virtuosität Jean-Yves Thibaudet als Lisztlöwe im Nikolaisaal

Bescheiden tritt er auf, mit leicht geneigtem, wippendem Kopf, federnden Schritts, mit einem sanftmütigen Lächeln auf den Lippen – und greift dann doch so kraftvoll in die Tasten des diesmal gut gestimmten Nikolaisaal-Steinways, dass Erscheinung und Musik einen spannenden Kontrast bilden. Jean-Yves Thibaudet gehört zu den ganz Großen der internationalen Pianistenzunft, und so war er am Freitag im Rahmen der Weltstarreihe in den vollbesetzten Nikolaisaal geladen.

Bescheiden tritt er auf, mit leicht geneigtem, wippendem Kopf, federnden Schritts, mit einem sanftmütigen Lächeln auf den Lippen – und greift dann doch so kraftvoll in die Tasten des diesmal gut gestimmten Nikolaisaal-Steinways, dass Erscheinung und Musik einen spannenden Kontrast bilden. Jean-Yves Thibaudet gehört zu den ganz Großen der internationalen Pianistenzunft, und so war er am Freitag im Rahmen der Weltstarreihe in den vollbesetzten Nikolaisaal geladen. Zum 200. Geburtstag spielte der Franzose ausschließlich den Ungarn Franz „Ferenc“ Liszt und beeindruckte das Auditorium mit seiner raumgreifenden Virtuosität derart, dass es sich nicht weniger als drei Zugaben erklatschte.

Verdient war der Jubel allein schon deshalb, weil es schier unglaublich scheint, dass ein einzelner Mensch eine derartige Menge in rasender Geschwindigkeit aufeinanderfolgender Töne auswendig spielt – gerade so, als ob ein Schauspieler sämtliche Rollen aus beiden Teilen des Faust innerhalb kürzester Zeit von der Bühne herabprasseln ließe. Dabei ist vorstellbar, dass die eine oder andere Silbe verschluckt wird, im eindrucksvollen Feuerwerk manche Feinheit untergeht. Nachgerade unvermeidlich ist es auch, dass sich selbst ein Weltstar, der auf allen internationalen Konzertpodien aufgetreten ist und mehr als 40 Soloalben bei Decca aufgenommen hat, kleine Freiheiten im Notentext erlaubt, die die mörderischen Anforderungen Liszts etwas erleichtern. Erstaunlich bleibt dennoch, dass sich Thibaudet trotz all seiner 30-jährigen Bühnenroutine mehr als einmal auffällig verspielt – nicht immer an zu vernachlässigender Stelle, so dass schon mal ein strahlender Schluss- zum Septakkord wird.

Keine Frage – das kann, ja das muss passieren bei einem Programm, das unmenschlich schwer ist. Den Höhepunkt stellen hier sicher die „Légendes“ dar, die neben technischer Raffinesse auch echte Poesie erfordern. Thibaudet geht nach den „Tröstungen“ und den arg verhuschten „Wasserspielen der Villa d’Este“ nun weniger sparsam mit seinem Feingefühl um, markiert über aufbrandende Läufe und irrwitzige Arpeggio-Sprünge in ihrer Textur nur erahnbare Kaskaden, die sich dennoch als thematische Ideen herausschälen. Gleichermaßen erquicklich fühlt der Pianist in der „Tarantella“ aus den „Années de Pèlerinages“ der eigentlichen Musik auf den Zahn, die nur allzu oft hinter Liszts kompositorischen Virtuosenmätzchen versteckt ist.

Insgesamt aber legt der Franzose mit großer Geste mehr Wert auf Brillanz statt auf Intimität. Das kann man so machen, weil es die Zuhörer staunen lässt und Liszt, das muss man sagen, am ehesten gerecht wird. Aber man kann auch das Tempo herausnehmen, das Tastenlöwenfutter pikanter würzen, durchlaufende Hauptstimmen nicht gar zu sehr im Tremoli- und Trillerwirbel versinken lassen. Letztlich bleibt’s eine Geschmacksfrage, wenn derlei Eindruckschinderei eins zu eins in den Konzertsaal knallt. In der Paraphrase auf „Isoldes Liebestod“ wird am augenfälligsten, was passiert, wenn sogar die wagnerianische Leitmotivik im endlosen Tremolieren absäuft. Hier wandert schon Liszt in der vermeintlichen „Popularisierung“ seines Schwiegersohnes auf schmalem Grat. Wenn man das ungefiltert spielt, passt das Stück wohl eher ins Kuriositätenkabinett als in den Konzertsaal.

Wie stark ist Jean-Yves Thibaudet dagegen in den Zugaben, in denen er zeigt, zu welcher Poesie er fähig ist. Bei Brahms und Schumann ist er ganz bei sich – der Tastenautomat wirkt plötzlich menschlich, beseelt, empfindsam. Nach zwei Stunden Selbsttortur ist er bei der Vollendung angekommen. Es ist nur allzu verständlich, dass er damit das entrückte Publikum wie ein Erlöser von den Stühlen reißt. Eben: ein Weltstar. Bravo.

Christian Schmidt

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